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Joy
Division
Man könnte sagen: Diese Geschichte
ist so kurz wie (mittlerweile wohl auch) bekannt. Doch aller guten Dinge sind
drei. Deshalb kann man sich ehrlich freuen, dass Grant Gees ambitionierte Dokumentation
„Joy Division“ doch noch in die Kinos findet. Einmal mehr also „Joy Division“,
Manchester, Post-Punk, späte 1970er-Jahre. In Michael Winterbottoms luzider
Pop-Revue „24 Hour Party People“ (fd 38837) war die Band um den charismatischen
Sänger Ian Curtis nur ein (wichtiger) Teil eines umfassenden Puzzles. In
Anton Corbijns uninspiriertem Bio-Pic „Control“ (fd 38519) wurde dann umso heftiger
am Künstlermythos Ian Curtis gestrickt, flankiert von einer Neu-Edition
der zweieinhalb offiziellen Alben, die diese Band zwischen 1978 und 1980 veröffentlicht
hat. Als „Closer“, das zweite Studioalbum, im Frühsommer 1980 erschien,
war Curtis bereits tot.
„Control“ hatte großes Glück,
dass „Joy Division“ erst jetzt zu sehen ist. Umgekehrt wäre die konstruierte
Bedeutungsschwere von Corbijns Films noch deutlicher sichtbar gewesen. In der
jetzigen Reihenfolge des Erscheinens muss „Joy Division“ wie ein Blick in die
Recherche-Werkstatt der beider Vorgänger erscheinen: Wir sehen dieselben
Bilder und Personen, hören dieselben Songs, auch viele bekannte Anekdoten,
aber plötzlich bekommt die Geschichte ein anderes Gesicht, wird profaner,
zufälliger, surrealer. „Joy Division“ erzählt nicht mehr (nur) die
Geschichte einer Band, sondern auch die Geschichte einer Region, einer Stadt,
einer Generation. Die Industriebrache Manchester muss Mitte der 1970er-Jahre
wohl tatsächlich ein lebensfeindliches Katastrophengebiet gewesen sein,
in dessen Perspektivlosigkeit die Musik der Sex Pistols wie ein utopisches Versprechen
einschlug: „Don’t know what I want / But I know how to get it.“
In Grant Gees Film heißt es einmal,
dass der eigentümliche Sound von Joy Division, diese Mischung aus Rock
und Industrial, auf das Publikum in Manchester wie „Ambient“ geklungen habe:
der Sound der City. Aggressiv-eindimensionalen Punk-Rock spielte die Band nur
sehr kurze Zeit, die musikalische Entwicklung vollzog sich rasant (der Bass
als Melodie-Instrument) und verdankte sich im Studio dem Genie des drogenabhängigen
Produzenten Martin Hannett. Der amüsiert sich rückblickend, dass die
Band ihn ohne Wenn und Aber habe machen lassen, während die überlebenden
Bandmitglieder erklären, dass sie ihre eigenen Platten nicht so recht mochten:
viel zu düster und opak. Andererseits ist das genau die Qualität der
Musik von Joy Division, die sich im Gegensatz zu der vieler anderer Post-Punk-Bands
erstaunlich gut gehalten hat: „bloody contemporary“ heißt es diesbezüglich
treffend im Film – und diese These wird im Verlauf des Films immer gewichtiger.
Regisseur Grant Gee und sein Berater,
der Musikkritiker Jon Savage, haben Interviews mit den Protagonisten der Geschichte
von Joy Division, von „Factory Records“ und Post-Punk geführt. Auch hier
kommt es zu Verknotungen mit den vorangegangenen Filmen, wenn etwa der mittlerweile
verstorbene Tony Wilson auftritt, der in Winterbottoms Film noch von Steve Coogan
gespielt wurde. Einige der Cameos aus Winterbottoms Film treten jetzt als sie
selbst auf. Curtis’ Geliebte, die Musikjournalistin Annik Honoré, die
in „Control“ nur eine blasse Nebenfigur war, kommt jetzt ausführlich zu
Wort, ebenso einschlägige Zeitzeugen wie Genesis P. Orridge, Peter Saville,
Jon Wozencroft oder eben auch Anton Corbijn. Durch die Auswahl der Gesprächspartner
und durch das dokumentarische Archivmaterial entstehen hochinteressante Vexierbilder,
Reibungen, Übermalungen, Echos oder Pointierungen. Vor allem aber führt
das zu einer entschiedenen Entmystifizierung des ganzen Themenkomplexes, was
auch damit zu tun hat, dass das Rätsel Ian Curtis immer rätselhafter
wird, je mehr über ihn von Menschen erzählt wird, die sich nie für
ihn interessiert haben. Wenn die anderen Bandmitglieder von Joy Division vor
laufender Kamera berichten, dass sie auf seine existentiellen bis depressiven
Texte nie so geachtet haben, erscheint das aus heutiger Perspektive lachhaft
bis skandalös. So ist „Joy Division“ ein Film, der sein vielfältiges
Material auf ambitionierte Weise so montiert, dass über die biografische
Konstruktion immer auch ein kulturhistorischer „Mehrwert“ sichtbar wird. Hier
kann man etwa erfahren, warum es nicht reicht, die Musik des Post-Punk zu recyclen
(wie es aktuell Bands wie Interpol versuchen), wenn man sich nicht klar macht,
auf welchen lebensweltlichen Erfahrungshintergrund die Originale um 1980 ästhetisch
reagierten.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-Dienst
Joy
Division
Großbritannien
2007 - Regie: Grant Gee – Mitwirkende: Bernard Sumner, Peter Hook, Stephen Morris,
Peter Saville, Tony Wilson, Annik Honoré, Anton Corbijn, Richard Searling,
Paul Morley, Malcolm Whitehead, Liz Naylor - Länge: 96 min. - Start: 5.3.2009
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