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Der Junge mit dem Fahrrad
Cyril kann den Vater
telefonisch nicht mehr erreichen. Da büchst er aus aus dem Heim, flieht
zum Haus, in dem der Vater nicht länger wohnt, pocht an der der Tür
der Wohnung, die nun leersteht: Rennen, Busfahren, der Weg durch die Stadt,
durch das Haus - die Bewegung ist äußerst elliptisch montiert; fast
schwerelos inszenieren die Dardennes diese Flucht, überführen die
Zeit des Geschehens gleich zu Beginn in eine Zeit des Erzählens, in der
nicht die Regeln der Wirklichkeit gelten, sondern die der Aufgaben, die die
Erzählinstanz stellt, der Entscheidungen, die sie trifft.
Gegen die Leichtigkeit
dieser Zeit wird hier gleich und immer wieder etwas ganz anderes gesetzt, Handlungen
von Gewicht: ein Haften, ein Klammern, ein Nichtloslassenwollen, als Erklärung
eines verbissenen Anspruchs. Cyril, der den Vater nicht findet, denn der Vater
lebt nicht mehr hier, will sich auf der Flucht vor den Leuten vom Heim in einer
Arztpraxis im ehemaligen Haus des Vaters verstecken. Sie finden ihn, da stürzt
er sich auf die nächstbeste Frau, umklammert sie, wie in "L'enfant" der ertrinkende Steve im eiskalten Wasser sich
an seinen Spießgesellen Bruno klammerte, verzweifelt, als wäre er
gewillt, im Leben diesen Griff nicht zu lösen.
Das sind die zwei Pole. Die rasche Bewegung, erst auf Flügeln des Schnitts, später in rasender Fahrt auf dem Fahrrad, das der Vater verkauft hat. Es wird in hinreißender Unwahrscheinlichkeit die umklammerte Frau aus der Praxis für Cyril zur neuen Mutter. Samantha, Friseurin, Cecile de France. Sie kommt, dem unvermittelten Klammergriff folgend, als Fremde ins Heim, bringt als Botin eines ganz unerwarteten Glücks das Fahrrad zurück. Eine Übertragungsbewegung: von Vater zu Mutter, vom Haften und Klammern zum gamin au velo.
Die Dardennes erweisen
sich mit diesem Film ein weiteres Mal als grandiose Erzähler. Ihre Kunst
des Erzählens wird selten gewürdigt, oder gilt vielen doch als Sekundärtugend,
wenn nicht als eher verdächtig. Prominenter in der Dardennediskurspoduktion
ist die Kameraarbeit, dabei steht auch sie stets im Dienst der Entfaltung einer
Geschichte. In den Klassikern "Rosetta" und "Le fils" produziert der eingeschränkte, aber niemals
subjektive Kamerablick in fast schon enervierender Dichte Spannungsmomente,
indem er zwischen dem, was die Figur, und dem, was der Zuschauer sieht, durch
verzögerte und verweigerte Blicke ein Erwartungsgefälle auf- und abbaut.
Es liegt darin eine
erzählerische Souveränität zweiter Ordnung: ein auktoriales Wissen,
das sich in der Entscheidung über Umfang und Zeitpunkt des Zeigens dessen,
was zu zeigen ist, konzentriert. Nebenbei, oder gar nicht so nebenbei, ist das
ein virtuoses und immer artifizielles Spiel mit der Spannung. Das Dardennekino
bewegt sich in faszinierender, nicht immer bemerkter Nähe zum Kriminalgenrefilm.
Aus den Genremomentem der Ahnung, der Spannung, der Schürzung von Knoten,
deren Ökonomien die Dardennes makellos beherrschen, ziehen sie aber etwas
wie einen ethischen Impetus. Sie verwickeln den Betrachter durch das Spiel mit
Erwartung und Überraschung, mit dem On und dem Off in eine komplexe Beziehung
zu ihren Protagonisten.
Die immer künstliche
Enge des Blicks schafft ein eigenes Verhältnis zur Figur wie zur Welt.
Sie gibt sich als Nähe zum zentralen Charakter, Rosetta, Olivier, Bruno,
nun Cyril, auf die man schon in der ersten Szene geprägt wird. Man folgt
ihr, läuft hinter ihr her, aber doch gar nicht so wie hinter Konrad Lorenz
die Wildgans. Die Nähe ist nicht einfach nur positiv Nähe, sondern
wird dazu erst als Negativ; sie entsteht durch den Verzicht aufs tableauhafte
Bild, auf die scheinbare Neutralität einer Distanz, die Bildräume
als existierende hinstellt. Die zunächst leicht zu übersehende, aber
ganz entscheidende Distanz der Dardennekamera zur Figur ist von anderer Art
als im konventionell kadrierten Bewegtbild, ergibt sich gerade aus der Differenz
von "subjektivem" und "objektivem" Blick. Als Zuschauer
sieht man nie genau das, was die Figur sieht - und soll es nicht sehen. Die
Figur, der ich nah bin, ist nicht nur Ego, nicht nur Gesicht, mit dem ich mich identifiziere,
sondern immer auch Alter, das mir die Schulter zeigt. Diese Subjekt-Objekt-Differenz
bei großer Nähe ermöglicht komplexere Beziehungen zwischen Figur
und Betrachter als solche der reinen Identifikation.
Darauf kommt es an.
Es lässt sich auf diese Weise verurteilen, was Rosetta, was Bruno, was
Cyril tut. Aber man dringt mit der eigenen Verurteilung der kleineren und größeren
Verbrechen, der Torheiten und Verfehlungen des Personals zu keiner Endgültigkeit
durch. Die Kamera bleibt ja dran und es liegt darin durchaus eine Nötigung:
Schau weiter hin. Bleib weiter dabei. Denk und fühl weiter mit. Ein Kino
in Imperativen, das aber gerade nicht zum fertigen Urteil drängt, sondern
zu fortgesetztem Aufschub dieses Urteils. Den Impuls, die Protagonistin, den
Protagonisten aufzugeben, von mir zu stoßen, ein letztes Wort im eigenen
inneren Gerichtshof über sie oder ihn zu sprechen, spüre ich in Dardennefilmen
wieder und wieder. Und doch zögere ich, warte noch einmal ab, sehe weiter
hin, denn die Erzählung ist mit ihr und mit ihm noch nicht - und bis zum
Schluss nicht - ganz fertig.
Dieser kategorische
Imperativ - "Du musst nicht gutheißen, was du siehst, aber sieh weiter
hin!" - verliert sich in den beiden jüngeren Filmen, "Le silence de Lorna" und jetzt "Le gamin au vélo",
keineswegs, obgleich sich der Blick etwas weitet. Die Kamera konventionalisiert
sich bei den Dardennes, nun da sie im Weltkino Vorbildwirkung erzielt hat und
noch einmal radikalisierte (Brillante Mendoza), natürlich aber auch stupid
epigonale Variationen (sonder Zahl) erfährt. Gerade die ethische Implikation
geht dabei oft verloren. Umso interessanter, dass die Dardennes selbst schon
mit "Le silence de Lorna", nun auch in "Le gamin au vélo"
ausdrücklicher auf eine Zuschauer-Implikationsstrategie setzen, die sich
stärker als zuvor der Explikation und Entfaltung von Erzählsituationen
verdankt.
"Le gamin au
vélo" ist ein wahrer Hindernisparcours für Cyril, den Jungen,
an dem unser Identifikationsbegehren hängt: vom ersten Ton an, da noch
ohne Bild, erst recht ab dem ersten Bild, das zum Ton kommt und Cyril beim verzweifelten
Versuch zeigt, des verlorenen Vaters am Telefon habhaft zu werden. Im Verlauf
des Parcours wird Cyril zum alles andere als pflegeleichten Ersatzsohn, zum
insistenten Vaterbedränger, zum Verbrecher aus verlorener und vom ganz
falschen Objekt erhoffter Liebe, zum Opfer, das die an ihm verübte Tat
möglicherweise als gerecht erfährt. Da wird ein Knoten nach dem andren
geschürzt und in jeder neuen Erzählsituation sieht man sich genötigt,
die Haltung zum Protagonisten wieder zu ändern, wird von Mitleid zu Wut,
von Verständnis zu Empörung gejagt. Ein wahrer Crashkurs des Blickens
und Fühlens, ein ständiges Pendeln zwischen Hingezogensein und Abstandstandbegehren.
Die Kamera haftet
weniger insistent als zuvor, klammert und lässt wieder los, so wie der
Schnitt mal elliptisch ist, dann wieder fast quälend lang ausbleibt. Auf
allen Ebenen regiert diese Dialektik von Klammern und fast schwereloser Bewegung.
Und wenn man genau hinsieht, vereint sogar das Rad selbst als Dingsymbol diese
Dialektik in sich: Erst fehlt es, dann rast Cyril damit durch die Straßen,
dann ist es weg, dann wieder da, dann ist es platt. Mit der Friseurin Samantha,
von Cecile de France ohne jeden Glamour gespielt, hat der Zuschauer eine Art
Vertreterfigur: Cyril klammert sich an ihr fest aus heiterem Himmel, dann will
sie ihn, dann verstört er sie, verrät ihr Vertrauen, sie eilt hinterher,
gibt beinahe auf und am Ende doch nicht. So geht es auch uns und so soll es
uns gehen.
Am Ende eines Dardennefilms
steht in der Regel eine Form von Versöhnung, sogar da noch, wo Lorna alleine
im Wald ist - denn sie ist ins Alleinsein sozusagen glücklich entkommen.
Auf diese Versöhnung wollen und sollen die Filme hinaus, auch deshalb,
weil sich vor dem Horizont des glücklichen (jedenfalls nicht vollends unglücklichen)
Endes die Erlösungsbedürftigkeit der Figur zuvor umso entschiedener
darstellen lässt. In "Le gamin au vélo" ist dieses Ende
mehr vielleicht als je in einem Dardennefilm die konsequente Synthese der zuvor
entworfenen Dialektik, hier zwischen Haften/Klammern und Ellipse/freier Bewegung.
Der Junge ist wieder auf dem Fahrrad, aber er hat nun ein Ziel und eine Zukunft.
Wir sehen nicht mehr, wie ihn die Friseurin Samantha am Ende im Zuhause empfängt.
Es schließt ihn dafür am Übergang in die Schwärze des Abspanns
die sublime Beethovenmusik in die Arme.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Cargo
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Der Junge mit dem Fahrrad
OT: Le gamin au vélo
Belgien / Frankreich / Italien 2011 - 87 min.
Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne - Drehbuch: Jean-Pierre Dardenne,
Luc Dardenne - Produktion: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne, Denis Freyd -
Kamera: Alain Marcoen - Schnitt: Marie-Hélène Dozo - Verleih:
Alamode - Besetzung: Thomas Doret, Cécile De France, Jérémie
Renier, Egon Di Mateo, Fabrizio Rongione
Kinostart (D): 09.02.2012
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