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Kinatay
Lola
Leben oder Geld
Die faszinierende Bewegung einer sozialen dynamischen
Gesellschaft: der philippinische Filmemacher Brillante Mendoza und seine Filme
„Lola“ und „Kinatay“
Die alte Dame hat mächtig zu kämpfen. Ihr knorriger
Körper stemmt sich gegen Wind und Regen, erbittert ringt sie mit dem Schirm,
der sich zunächst nicht öffnen lassen will und ihr dann von einer
Windböe fast aus der Hand gerissen wird. An der anderen Hand führt
sie ihren Enkel, sie zieht ihn regelrecht hinter sich her durch die Straßen.
Zwischendurch stoppt sie an einer Mauer, auch hier macht ihr der Wind zu schaffen.
Erst nach mehreren Versuchen gelingt es ihr, eine Kerze anzuzünden. Ein
paar neugierigen Straßenkindern erklärt der Junge, dass an dieser
Stelle sein Onkel in der Nacht zuvor erstochen wurde. Die Großmutter schluchzt
kurz – ob aus Trauer oder Erschöpfung, ist nicht ersichtlich, weil ihr
der Wind wieder ins Gesicht bläst. Dann geht es weiter, eine Treppe hoch,
hinein in den ohrenbetäubenden Straßenverkehr, durch den sich die
Frau ihren Weg bahnt.
„Lola“, der neue Film des philippinischen Regisseurs
Brillante Mendoza, ist erst wenige Minuten alt, doch der Zuschauer befindet
sich bereits mitten im Geschehen. Unermüdlich folgt die Kamera Großmutter
Sepa auf ihrem beschwerlichen Marsch durch die labyrinthischen
Straßenzüge von Manila. Die Sinneseindrücke sind überwältigend.
(Der Originalton der Schauplätze spielt wie immer bei Mendoza eine wichtige
Rolle.) Umso bewundernswerter ist es, wie unbeirrt die alte Frau sich und ihren
Enkel durch das hektische Treiben manövriert.
Die zehnminütige Eröffnungssequenz von „Lola
wird“ von der Kritik zitiert und gelobt und das nicht nur, weil Regisseur Mendoza
so hautnah und realistisch wie derzeit kein anderer Filmemacher den urbanen
Raum zu inszenieren versteht. Die Bewegung der Menschen in diesem Raum verleiht
Mendozas Filmen eine soziale Dynamik, die Mittel der Fortbewegung schreiben
nebenbei eine gesellschaftliche Zugehörigkeit fest. Darum wirken seine
Filme mitunter so langsam: weil sie sich ständig dem Tempo ihrer Figuren
anpassen müssen, ob im Ruderboot, zu Fuß oder auf der Ladeflächen
umfunktionierter Armee-Jeeps, wie sie in Manila häufig im öffentlichen
Nahverkehr eingesetzt werden. „Lola“ (im philippinischen Tagalog das Wort für
Großmutter) besteht größtenteils aus den Fußmärschen
zwei alter Frauen, vom Pfandleiher zum Beerdigungsinstitut, vom Gefängnis
zum Stadtamt.
Ihre Wege kreuzen sich durch den Tod eines Mannes, doch
der Tod ist bloß eine weitere Bürde im Leben der Frauen. Lola Sepas Enkel wurde wegen seines Mobiltelefons erstochen, und nun liegt es
an ihr, noch für die Begräbniskosten aufzukommen. Lola Puring, die Großmutter des Mörders, versucht ihrerseits, Geld
für eine außergerichtliche Einigung aufzutreiben. Gerechtigkeit ist
in Mendozas Filmen ein Luxus, den sich nur leisten kann, wer über das nötige
Kapital verfügt. So zieht sich der Austausch von Geld und Waren als weiteres
zentrales Motiv durch Mendozas Œuvre: eine knappe Geste,
die den Warenverkehr als stetigen Überlebenskampf entlarvt.
Das Chaos von Quiapo
Doch es sind vor allem die Bewegungen seiner Figuren,
die Mendozas Filme strukturieren. In Mittelpunkt von „Manoro“ („The
Teacher“, 2006) steht die Wanderung der 13-jährigen Jonalyn durch die Provinz Pampanga. Die Präsidentschaftswahlen stehen an, und das
Mädchen begibt sich in die abgelegene Region, um der rückständigen
Bevölkerung die Vorzüge demokratischer Errungenschaften zu erläutern.
Politisch hält Mendoza sich bedeckt, er beobachtet ihre Bemühungen,
ohne zu werten. Doch der harte Marsch lässt erahnen, welch langer Weg den
Philippinen zur Demokratie noch bevorsteht.
In „Foster Child“ (2006) ähneln die Wege der weiblichen
Hauptfigur denen der beiden Lolas. Thelma bereitet sich darauf vor, ihren langjährigen
Pflegesohn an eine reiche amerikanische Familie abzugeben. Mendoza verfolgt
die Frau einen Tag lang akribisch bei ihren Verrichtungen, die sie und den Jungen
einmal durch ihr Wohnviertel führen. Der Film endet schließlich in
einer für sie fremdartigen Welt: einem Luxushotel, das von einem bewaffneten
Sicherheitsdienst bewacht wird. Bei der Erschließung der Topografie geht
Mendoza überaus konsequent vor – in „Foster Child“ verwendet er erstmals
Plansequenzen, um den sozialen Raum wirklichkeitsnah abzubilden.
Der nächste Film bricht mit dieser Übersichtlichkeit.
In „Tirador“ („Slingshot“, 2007) ordnet Mendoza den Rhythmus dem Chaos in Quiapo unter, dem historischen Stadtzentrum Manilas mit seinen Kleinkriminellen,
Händlern und Tagelöhnern. Für das Figuren- und Stimmengewirr
wählt er eine dezentrale Erzählerposition, die mehr ein soziales Milieu
denn Einzelschicksale in den Blick nimmt. Auch in seinem vorletzten Film „Kinatay“ (zu deutsch: „abgeschlachtet“) steht eine schier endlose Bewegung im Mittelpunkt:
eine knapp halbstündige Autofahrt durch das nächtliche Manila, während
der die Tonspur die Narration übernimmt. Die Fahrt wird sich für den
jungen Polizisten Peping (gespielt von Coco Martin, der in fünf Filmen Mendozas
zu sehen ist) als brutaler Initiationsakt herausstellen: Er wird Komplize bei
der grausamen Ermordung einer Prostituierten.
Buh-Rufe in Cannes
Dass „Kinatay“ und „Lola“ nun
zeitgleich in den deutschen Kinos starten, entbehrt nicht einer Logik, fungieren
sie doch in Mendozas Werk als eine Art Klammer. Die Filme von Mendoza setzen
sich, ähnlich den Arbeiten Lino Brockas, dem Schirmherren
des philippinischen Kinos, mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft
auseinander. Darin könnten sie gegensätzlicher kaum sein. Während
„Kinatay“ komplexe Gewaltverhältnisse in einer ganz konkreten,
subjektiven Extremsituation verdichtet und diese Erfahrung (auch formal durch
sein diffuses Licht) aus einem gesellschaftlichen Zusammenhang reißt,
steht „Lola“ mit seiner unermüdlichen Mobilität für eine vergleichsweise
offene Gesellschaftskritik, jenseits von moralischen Schuldzuschreibungen oder
überdeutlichen Kausalzusammenhängen. Bei Mendoza stößt
selbst die Solidarität unter den Ärmsten an ihre Grenzen. Einmal haut
Lola Puring einen Kunden beim Gemüseverkauf übers Ohr,
ein Bestattungsunternehmer wiederum versucht, aus dem tragischen Verlust Lola
Sepas größtmöglichen Profit zu erzielen. Überstrahlt
wird dieser beschwerliche Alltag nur vom zähen Überlebenswillen der
Frauen, die wie so oft bei Mendoza als treibende Kraft innerhalb ihrer Familien
fungieren.
Im so genannten Weltkino ist
die Filmografie Brillante Mendozas, mit Ausnahme vielleicht des thailändischen
Wunderkinds Apichatpong Weerasethakul, eine der seltsamsten Erfolgsgeschichten der vergangenen
Jahre. Mit seinen letzten Filmen „Serbis“ („Service“, 2008),
„Kinatay“ und „Lola“ war er als erster Regisseur in drei aufeinanderfolgenden
Wettbewerben in Cannes und Venedig für den besten Film nominiert. Der Preis
für die beste Regie, den er mit „Kinatay“ 2009 in Cannes
gewann, wurde von der Presse mit Buh-Rufen quittiert. Mendoza polarisiert.
Vorwurf "Elendspornografie"
In seiner Heimat wirft man ihm vor, dass seine (in Europa
produzierten) Filme ein in der westlichen Welt vorherrschendes Bild von der
philippinischen Gesellschaft bestärken; „Elendspornografie“ ist ein Begriff,
mit dem auch manche westlichen Kritiker die Filme Mendozas beschreiben. Demgegenüber
steht ein beispielloser Siegeszug durch den internationalen Festivalzirkus,
der für Mendozas Art von Kino (unverbindlich-kritisch, mit viel Lokalkolorit)
seit einigen Jahren sehr empfänglich ist. Schon mit seinem Debüt „Masahista“ („The Masseur“, 2005), einer Tragikomödie über junge Stricher
in einem schwulen Massagesalon, gewann er auf dem Festival in Locarno einen
der Hauptpreise. Dabei kam Mendoza erst spät zum Film. Er begann als Werberegisseur,
was man seinen frühen Arbeiten mit ihrem dezenten Stilwillen bisweilen
ansieht. Mit „Foster Child“ hat Mendoza zu seiner Handschrift eines Cinéma vérité gefunden.
Doch es ist nicht primär Mendozas Stil, der ihn
zu einem der derzeit interessantesten Vertreter des „Weltkinos“ macht. Die marginale
Perspektive der Globalisierungsverlierer ist längst auch vom westlichen
Kino vereinnahmt worden (siehe Lukas Moodyssons
lächerlich-unbeholfener Film „Mammut“). Die Einheit von Zeit und Ort, mit
der er seine sozialen Milieus auf bravouröse Weise zu lebendigen Schauplätzen
menschlicher Konflikte gestaltet, war schon vor Mendoza ein beliebtes Stilmittel
gesellschaftskritischen Filmemachens. Und selbst die langen Einstellungen, mit
denen er seine Figuren bei der Arbeit, beim Warten oder Verhandeln beobachtet,
gehören im „Weltkino“ inzwischen zum guten Ton. Was ihn vom Gros seiner Kollegen
unterscheidet, hat Mendoza in verschiedenen Interviews mit dem Begriff „Wahrhaftigkeit”
beschrieben.
Gespräche am Rande
Diese Wahrhaftigkeit begnügt sich nicht mit dem
dokumentarischen Duktus des Cinéma vérité; sie dringt tiefer in das soziale Gewebe ein, das den
Alltag seiner Figuren zusammenhält. Einer beiläufigen Geste oder einem
Gespräch am Rande misst Mendoza mehr Bedeutung für das Verständnis
einer konkreten Lebenssituation bei als dem abstrakten Wissen um einen großen
gesellschaftlichen Zusammenhang. Er nimmt sich die Zeit zum Beobachten und vermeidet
so Typisierungen. Gerade aus diesen disparaten, mitunter zufällig erscheinenden
Eindrücken schöpfen seine Filme ihre enorme Vitalität.
Bei Mendoza ist die soziale Dynamik, entgegen den Vorstellungen
des westlichen Kinos vom Alltag in den Ländern des Südens, eben nicht
ausschließlich vom materiellen Überlebenskampf geprägt. Es bleibt
auch Raum für kleine Wunder. Wunder, wie die beiden Lolas Sepa und Puring, die sich erst spät im Film persönlich begegnen,
im Verlaufe ihres Gesprächs schließlich aber auch auf die Frage eingehen,
die den Zuschauer die ganze Zeit beschäftigt hat: Woher diese bewundernswerten
Frauen bloß ihre Kraft nehmen? Ob sie denn auch Arthritis habe, fragt
die eine erschöpft. Worauf ihr die andere einige Ernährungsratschläge
gibt. Nichts Außergewöhnliches also. Und dann beklagen sie sich erst
einmal über ihre Männer.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Der Freitag
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Kinatay
Frankreich / Philippinen 2009 - Regie: Brillante Mendoza
- Darsteller: Coco Martin, Julio Diaz, Mercedes Cabral, Maria Isabel Lopez,
John Regala, Jhong Hilario, Lauren Novero - FSK: keine Jugendfreigabe
- Fassung: O.m.d.U. - Länge: 105 min. - Start: 15.7.2010
Lola
Frankreich / Philippinen 2009 - Regie: Brillante Mendoza
- Darsteller: Anita Linda, Rustica Carpio, Tanya Gomez,
Jhong Hilario, Ketchup Eusebio, Benjie Filomeno
- FSK: ohne Altersbeschränkung - Fassung: O.m.d.U. -
Länge: 110 min. - Start: 15.7.2010
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