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Die
Klasse
Das
siegende Klassenzimmer
Cannes 2008 war ein Triumph für
die Tradition des Autorenfilms und das französische Kino. Das beweist auch
die Goldene Palme für Cantets passionierten Bildungfilm "Entre les
murs".
Seit 1987 hat in Cannes kein französischer
Film mehr die Goldene Palme gewonnen. In diesem Jahr ist es wieder so weit.
Die höchste Auszeichnung des Filmfestivals ist am Sonntagabend an "Entre
les Murs" [dt. Verleihtitel: "Die Klasse" - die
filmzentralen-Redaktion]
von Laurent Cantet gegangen. Die Jury unter Vorsitz von Sean Penn hat die Entscheidung
einstimmig gefällt, und sie hat gut daran getan. "Entre les Murs"
feierte seine Premiere am Samstagnachmittag als starker Schlussakkord für
ein fast durchweg starkes Festival.
Cantets Film stellt sich drängenden
Fragen, ohne einfache Antworten bei der Hand zu haben. Was ist Bildung? Wie
erreicht sie die, die sie nicht in die Wiege gelegt bekommen? Wie muss sie in
einer Gesellschaft aussehen, die einer einheitlichen kulturellen Grundlage entbehrt?
Und welche Sprache findet man, um vor diesem Hintergrund überhaupt miteinander
zu reden? Zu keiner dieser Fragen hat Cantets Film eine vorgefasste Meinung.
Stattdessen schaut er voller Neugier auf seinen Gegenstand, und in diesem lustvoll-interessierten
Blick liegt der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis.
"Entre les Murs" ist ein Spielfilm,
wenn auch einer, der das Dokumentarische und das Fiktionale miteinander verwebt.
Gedreht hat Cantet mit 14, 15 Jahre alten Laien, Schauplatz ist eine Schule
im 20. Arrondissement von Paris. Die meisten Schüler haben Eltern, die
nicht in Frankreich geboren wurden, manche, etwa der aus China stammende Wei,
sprechen nicht gut Französisch. Der Klassenlehrer, François Marin,
wird von einem ehemaligen Lehrer gespielt: von François Bégaudeau.
Nachdem er sich vom Schuldienst hatte befreien lassen, schrieb er mehrere Bücher,
darunter einen Erfahrungsbericht aus seiner Zeit an der Schule, der die Grundlage
für Cantets Film bildet. Bégaudeau arbeitete neben Cantet und Robin
Campillo am Drehbuch mit. Die Schüler wurden an einer Schule gecastet,
spielen aber nicht sich selbst, sondern entwickeln ihre Figuren.
Obwohl "Entre les Murs" über
weite Strecken das Klassenzimmer nicht verlässt, ist er niemals langweilig
oder zäh. Der Lehrer fordert die Schüler heraus, lässt sich ihre
Trägheit, ihre Verweigerung und Undiszipliniertheit nicht bieten. Die Schüler
wiederum reiben sich an dieser Haltung, geben Widerworte und lassen sich auf
Rededuelle ein, bei denen unterschiedliche Formen des Sprechens - umgangssprachlich
und förmlich, Patois und Hochfranzösisch - miteinander wetteifern.
Immer wieder stellen sie infrage, warum sie etwas lernen sollen, solange es
ihnen in ihrem Alltag nichts nützt. Wozu braucht man die Verbformen des
Imperfekts im Subjonctif, wenn ohnehin niemand mehr so spricht? Warum verwendet
der Lehrer in seinen Beispielsätzen niemals Namen wie Anaïssa oder
Rachid, sondern nur die von "Weißen"?
Oft sind solche Konfrontationen für
beide Seiten produktiv, manchmal gefährlich und einmal gar fatal - in einer
unübersichtlichen, erhitzten Situation beleidigt der Schüler Souleymane
(Franck Keïta) einen anderen in der Klasse und den Lehrer; versehentlich
verletzt er mit seinem Rucksack eine Schülerin. Dafür handelt er sich
ein Disziplinarverfahren ein. Man weiß von ihm, dass seine Mutter kaum
Französisch spricht und weder lesen noch schreiben kann. Und falls er von
der Schule verwiesen wird, will ihn sein Vater zurück ins malische Dorf
schicken. So engagiert sie auch sind, haben die Lehrer für diese Situation
keine befriedigende Lösung.
Cantets Film glückt etwas Besonderes.
Während sich Regisseure wie Nicolas Philibert ("Etre
et Avoir") oder Abdellatif
Kechiche ("L'Esquive") dem Ideal der republikanischen
Schule verpflichten, demzufolge alle gleichermaßen Zugang zum französischen
Bildungskanon und damit zur französischen Gesellschaft erhalten, stellt
Cantet dieses Ideal sanft infrage. "Entre les Murs" lässt ahnen,
wie sich das Ideal konkret am Analphabetentum der Elterngeneration stößt
und abstrakt an der Gefahr, sich selbst absolut zu setzen.
Cantet hält trotzdem daran fest,
Bildung leidenschaftlich zu verteidigen - immerhin ist und bleibt sie die Grundlage
für die Teilhabe an der Gesellschaft. Es ist beeindruckend zu sehen, wie
es einem mit jugendlichen Laien gedrehten Film gelingt, ein so hohes Maß
an Ambivalenz herzustellen und dabei von der ersten bis zur letzten Minute die
Spannung zu halten.
Cristina Nord
Dieser Text ist zuerst erschienen,
anlässlich der Filmfestspiele von Cannes, am 27.5.2008 in der: taz
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Die
Klasse
(Entre
les murs)
Frankreich
2008. R: Laurent Cantet. B: François Bégaudeau (nach seinem Roman
»Entre les murs«). P:
Carole Scotta, Caroline Benjo, Barbara Letellier. K: Pierre Milon. Sch:
Robin Campillo. A: Sabine Barthélémy, Héléne Bellanger.
Pg: Haut et Court, France 2 Cinéma/Canal+, France 2. V: Concorde. L:
128 Min. FBW: besonders wertvoll. Da: François Bégaudeau, Nassim
Amrabt, Laura Baquela, Cherif Bounïdja, Juliette Demaille, Dalla Doucoure,
Arthur Fogel, Damien Gomes u.a.
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