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Korankinder
Wer
früh sich beugt
Demut, Drill und Disziplin: „Korankinder“
erforscht den Religionsschulalltag in Bangladesch
Langsam fährt die Kamera die Reihe
von Kindern entlang, schaut jedem von ihnen lange ins ernste Gesicht. Nebeneinander
sitzen die Jungen auf dem Boden und wippen zu ihrem Singsang mit dem Oberkörper,
vor sich auf niedrigen Gestellen die Koranbände, aus denen sie lesen. Die
Suren sind in arabischer Schrift und Sprache. Die Bengali sprechenden Kinder
verstehen nicht, was sie da rezitieren – also müssen sie es auswendig lernen
unter der strengen Hand eines Hafiz, der neben Demut und Fleiß beim Lernen
auch in der Freizeit Disziplin und Gehorsam fordert. Und die Strafen sind hart.
Erst der Einsatz weitgespannter familiärer
Beziehungen hat es dem Filmemacher Shaheen Dill-Riaz möglich gemacht, mit
der Kamera ins Innerste der Koranschule von Amirabad zu gelangen. Sie ist eine
von etwa 10 000 ähnlichen Einrichtungen in Bangladesch (gegenüber
90 000 Schulen insgesamt im Land). In dem dreistöckigen Gebäude mit
langen Laubengängen wohnen die Kinder – etwa 70 pro Klasse – für die
Jahre der Unterweisung wie im Internat.
Dill-Riaz ist selbst in Dhaka geboren,
erst 1992 hat er – beeinflusst vom Neuen Deutschen Film um Wenders und Herzog
– das Land mit einem Goethe-Stipendium verlassen und bald darauf an der Babelsberger
Filmhochschule Konrad Wolf ein Kamerastudium begonnen. Bei Besuchen in der Heimat
erstaunte ihn die massive, dort mittlerweile auch öffentlich zur Schau
gestellte Religiosität. „Warum kommen mir die Bilder so fremd vor?“ fragt
der Emigrant scheinbar naiv in seinem persönlich gehaltenen, auch selbst
eingesprochenen Kommentar.
Wieder macht er hier die eigene Neugierde
zum Stoff eines Films, nachdem er bereits mit drei preisgekrönten Dokumentarfilmen
der sozialen und spirituellen Realität seines Heimatlandes auf den Grund
gegangen war. Und wieder sind die eindrücklichen Bilder nur Ausgangspunkt
einer Suchbewegung, die ihn zunächst mit einzelnen Kindern, ihren Eltern
und Lehrern ins Gespräch bringt, um zu grundsätzlichen Fragen nach
der historischen Herkunft des religiösen Schulwesens im Lande vorzustoßen.
Ursprünglich waren die Koranschulen
von muslimischen Intellektuellen als unabhängiger Gegenentwurf zum Bildungssystem
der britischen Kolonialmacht initiiert und nicht auf das Koranstudium beschränkt.
Heute mündet die Ausbildung meist in die Tätigkeit eines Hafiz, der
als Koranlehrer oder mit religiösen Zeremonien den Lebensunterhalt verdient.
Für viele Familien ist das die einzige Hoffnung auf ein Auskommen und ein
besseres Leben – spätestens nach dem Tod. Opfer sind die Kinder, für
die der Eintritt in die enge Paukbudenwelt den endgültigen Abschied von
Lebenslust, Lernfreude und Bildungschancen bedeutet.
Als Terrorschulen im politischen Sinn
antiislamischer Propaganda sind die wenigsten dieser Lehranstalten zu sehen,
wohl aber vertreten sie deprimierend konsequent den Terror einer schwarzen Pädagogik,
die auch bei uns noch nicht gar so lange ausgestorben ist. So schafft „Korankinder“
letztlich vor allem Einblicke in die traurige Banalität einer Institution,
die im Westen immer noch von Geheimnissen und Klischees umstellt ist. Shaheen
Dill-Riaz ist selbst Muslim, Sohn säkularisierter Mittelstandseltern, deren
religiöse Einstellung er immer wieder herauszukitzeln versucht. „Aber Gott
muss uns doch auch lieben. Will er, dass wir unsere Kindheit für ihn opfern?“
fragt am Ende der Vater, ein Architekt, der gerade eine Moschee baut. Zu Hause
führt die Mutter das Wort. Dill-Riaz’ eigener Sohn geht in Warschau in
eine katholische Schule und wurde unlängst getauft. Die strenggläubigen
polnischen Schwiegereltern wollten es so.
Silvia Hallensleben
Dieser Text ist zuerst erschienen
im: Tagesspiegel vom 04.06.2009
Korankinder
Bangladesch
/ Deutschland 2008 - Regie: Shaheen Dill-Riaz – Mitwirkende: Mohammed Ismael,
Kamrul Hassan, Rayhan Hossain, Prof. Salimullah Khan, Sharfu
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