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Die
Kunst des negativen Denkens
In Skandinavien hat man es in Sachen „schwarzer
Humor“ gern eine Nummer lauter und – vermeintlich – böser. In den letzten
Jahren wurden Inzest, Rassismus, Sterbehilfe und Behinderungen zu „Plattformen“
ethischer Diskurse. Filme wie „Idioten“ (fd 33 631) und „Elling“ (fd 35 384)
oder die fast schon vergessenen „Miffo“ (fd 36 6809), „Dänische
Delikatessen“ (fd 36 640)
und „Adams
Äpfel“ (fd 37 779)
wagten einen etwas anderen Blick auf soziale bzw. ethische Konflikte. Jetzt
folgt mit „Die Kunst des negativen Denkens“ ein verspäteter Nachzügler
des Subgenres, der sich wie eine leidlich inspirierte Variation von „Einer
flog über das Kuckucksnest“
(fd 19 710) ausnimmt.
Die Geschichte ist schnell erzählt:
Die junge Invild ist die Schübe von Selbstmitleid ihres seit einem Unfall
querschnittsgelähmten Ehemannes Geirr leid. Geirr, Anfang 30, begreift
sein Schicksal nicht als Chance, sondern ist boshaft, hört den ganzen langen
Tag Songs von Johnny Cash, guckt Kriegsfilme und konsumiert dazu einen Joint
nach dem anderen. Wahrlich kein angenehmer Zeitgenosse! Aber warum sollte man
nach einem Unfall mit solchen Folgen noch ein angenehmer Zeitgenosse sein? Damit
man die Mitbürger nicht behelligt! Dafür sind Sozialarbeiter wie Tori
zuständig, die eine Gruppe höchst unterschiedlicher Menschen mit Behinderung
durch permanente Gehirnwäsche bei bester Laune hält. Die Welt, so
ihr Motto, ist schön, wenn man sie nur „richtig“ anschaut. Tori, die Propagandistin
der Kunst des positiven Denkens, hat ein gruppendynamisches Terrorregime errichtet,
das von Geirr in kürzester Zeit erfolgreich geschleift wird. Geirr lässt
sich gar nicht erst auf „das Positive“ ein, sondern infiltriert die professionell
gut gelaunte Behindertengruppe mit seiner nihilistischen Boshaftigkeit.
Das ist durchaus amüsant, aber nicht
abendfüllend, weshalb sich Regisseur und Drehbuchautor Bard Breien darum
bemüht, den behinderten Nebendarstellern etwas biografische Kontur zu verleihen.
Da ist Asbjorn, der nach einem Schlaganfall gelähmt und stumm ist. Er wird
im Verlauf des Films wieder sprechen und gehen lernen. Da ist die nach einem
Bergunfall gelähmte Marte, deren Mann Gard wunderbar mit den Konsequenzen
(s)einer kleinen Unachtsamkeit zu leben gelernt
hat. Das bisschen Querschnittslähmung kann diese aufgeklärte Beziehung
nicht tangieren, zumal ein schlechtes Gewissen im Spiel ist. Jedenfalls nicht,
solange die Behinderten unter dem Bann von Tori stehen. Ein Abend mit Geirr,
viel Alkohol, Gruppenkiffen, bösen Wahrheiten, die endlich einmal ausgesprochen
werden, und etwas russischem Roulette bringt Schwung in die Gruppe, bis alle
Lebenslügen, pragmatischen Gesundbetereien und elementaren Interessen offen
auf dem Tisch liegen. Muss man noch verraten, dass natürlich ausgerechnet
Tori die fundamentalsten Probleme hat?
Absolut vorhersehbar schleppt sich der
Film dahin, auf engstem Raum inszeniert wie ein Theaterstück. Natürlich
geht es nicht nur um Menschen mit Behinderungen, sondern um gesellschaftliche
Ideologien, deren Beschränkung auf konstante Positivität als Haltung
in Frage gestellt werden soll. Damit das funktioniert, muss man eben auch mal
„unkorrekte“ Sprüche klopfen und hinter die Fassade des Wellness-Terrorismus
gucken. Offen bleibt allerdings, ob hier nicht durch permanentes Sich-selbst-auf-die-Schulter-klopfen
für den eigenen Mut zur Unkorrektheit offene Türen eingerannt werden.
Schaltet man das „Unterschichtenfernsehen“ ein, muss auch dort das „Feindbild“
der herrschenden „political correctness“ als Alibi der eigenen Menschenverachtung
herhalten. Wer sich radikale Tabuverletzung auf die eigenen Fahnen schreibt,
verrät zunächst nur sehr viel über sich. Muss man tatsächlich
ins Kino gehen, um zu verstehen, dass körperliche Behinderungen eine echte
Zumutung sind?
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-Dienst
Die
Kunst des negativen Denkens
Norwegen 2007 - Originaltitel: Kunsten å tenke negativt - Regie: Bård Breien - Darsteller: Fridtjov Såheim, Kirsti Eline Torhaug, Henrik Mestad, Marian Saastad Ottesen, Kari Simonsen, Per Schaaning, Kjersti Holmen - FSK: ab 12 - Länge: 79 min. - Start: 18.9.2008
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