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Die Kunst zu lieben
Ein Medium der Scham
Emmanuel Mourets Episodenfilm "Die Kunst zu lieben" weiß um die Komplexität der Liebe wie der Ästhetik. Olias Barcos schwarzhumorige Groteske "Kill Me Please" seziert eine Servicemaschinerie des Tötens.
Das Schamgefühl, so wird an einer Stelle in Emmanuel Mourets "Die
Kunst zu lieben" aus der Zeitung verlesen, sitzt im Gesichts- und im Gehörsinn.
Diese Behauptung hat eine konkrete Funktion im Plot: Um die eigene Scham zu
überwinden, macht Amélie ihrem von ihr besessenen Kollegen Boris
das Angebot: sie werde zwar ein einziges Mal mit ihm schlafen - aber nur in
einem komplett verdunkelten Raum und bei komplettem Sprechverbot; es folgen
die erwartbaren Missverständnisse. Man kann diese "wissenschaftliche
Erkenntnis" jedoch auch zum Anlass nehmen für ein Gedankenspiel: Das
Kino zielt, als audiovisuelles Medium, eben und ausschließlich auf Gesichts-
und Gehörsinn, ist also, nach Mouret, in der Gesamtheit der Bilder und
Töne, die es hervorbringt, ein Medium der Scham. Steht damit das Audiovisuelle
des Kinos vielleicht automatisch in einem Gegensatz zum Pornografischen? Man
muss das nicht als Kritik der Pornografie nehmen - auch die Rebellion gegen
den schamvollen Blick hat ihre Berechtigung; was mit dieser Unterscheidung aber
möglicherweise erklärt werden kann, ist die Fülle und Vielgestaltigkeit,
die das Kino gerade durch den Aufschub und die fetischistische Übertragung
von Begehren und auch durch den gerade noch rechtzeitig abgewendeten Blick gewinnt.
Die einzelnen Geschichten, die Mourets Episodenfilm elegant nebeneinander ordnet
und gelegentlich miteinander verschränkt, ohne dass er sie ganz ineinander
aufgehen lassen würde, könnten fast jeden Moment ins Pornografische
kippen, mehr noch, sie nehmen ihren Ausgangspunkt direkt bei Klischees des Pornofilms:
Da ist zum Beispiel die Frau, die ihrer seit einem Jahr sexlosen Freundin anbietet,
mit ihrem Freund zu schlafen; oder die naive, offenherzige junge Nachbarin (Mourets
Lieblingsschauspielerin Frédérique Bel, in einer Paraderolle),
die, wie aus heiterem Himmel, im Nachthemd gekleidet bei einem älteren
Single vor der Tür steht, weil sie ihren Wohnungsschlüssel vergessen
hat - und die diesem dann gleich unaufgefordert erzählt, dass sie auf der
Suche nach einer Affäre ist, um über ihren Ex hinweg zu kommen; oder
die Frau fortgeschrittenen Alters, die ihren Ehemann liebt, aber sich von ihm
trennen will, weil sie ihre Libido nicht mehr unterdrücken kann.
Es kommt dann aber immer dazwischen: der menschliche Eigensinn als semantische
Volte der Verzögerung. Die Freundin schlägt das großzügige
Angebot aus, eben weil es ihrer eigenen Wunschphantasie perfekt entspricht;
die leichtbekleidete Nachbarin verwehrt sich gegen die Avancen ihres Verehrers
gerade deshalb, weil sie sie herausgefordert hat und weil sie deshalb nicht
Ausdruck eines "natürlichen", spontanen Begehrens sein können;
die ältere Frau bekommt von ihrem Ehemann alle Freiheiten und nutzt sie
dann, genau deswegen, doch nicht. "Eben weil", "gerade deshalb",
"genau deswegen": das sind Formeln für die Reflexivität,
die der Film in die Sexualität einzieht und über die sich die Liebe
- primär nicht als Gefühl, sondern als Form kommunikativen Handelns
- einnistet. Die Liebe ändert sich, wenn man über sie - oder: in ihr
- redet. Mit jedem Wort. Und, wenn man über sie einen Film dreht, mit jedem
Bild.
Den einzelnen Kapiteln sind kurze Titel vorangestellt, zu kurz für Sprichwörter,
zu lang für Lexikoneinträge - "Es gibt keine Liebe ohne Musik"
etwa, "Schlage nie ein Angebot aus" oder einfach nur "Geduld,
Geduld". Auch eine souveräne Erzählerstimme mischt sich gelegentlich
ein. An die Tradition des ironischen Gesellschaftsromans schließt der
Film ebenso an wie an die des Boulevardtheaters; aber "literarisch"
ist "Die Kunst zu lieben" nur in Mourets Sensibilität für
die Komplexität von Sprache und in der Art, wie er sich selbst romanhaft,
kommunikativ, über Dialoge von Bild und Ton, von Erzähl- und Figurenstimme,
von on- und offscreen organisiert; und auch "theaterartig" nur im
besten Sinne - als intelligente, geistreiche Konstruktion und Bildwerdung
eines in sich konstanten Raums. Mourets Film privilegiert die Montage innerhalb
der Einstellung über den Filmschnitt. Immer wieder lässt er zum Beispiel
eine Trennwand, oder eine Tür im Zentrum des Bildes stehen anstatt seinen
Figuren zu folgen. Die Liebe organisiert sich dann um diesen Widerstand herum.
Eigentlich kaum zu glauben, dass Emmanuel Mouret noch immer höchstens ein
Geheimtipp ist: Schon sechs spielerische Langfilme über die (bourgeoise,
heterosexuelle) Liebe hat er seit 2000 gedreht, mit tollen Figurenensembles,
die er oft selbst anführt, als linkischer Romantiker, ein wenig wie der
junge Woody Allen, nur ohne dessen Snobismus (in "Die Kunst zu lieben"
bleibt es bei einer Nebenrolle), und das im neuen Film vor allem die wunderbar
verhuschte Julie Depardieu um eine wundervolle neue Facette bereichert. Sechs
großartige Filme sind das, einer besser als der andere; der allerschönste
ist vielleicht der traumartige, melancholische "Vénus et Fleur"
(2004), der lustigste die Slapstick-Farce "Fais-moi plaisir!" (2008),
"Die Kunst zu lieben" nun ist zweifellos der souveränste und
klügste; ein Film, bei dem man durchaus an den mittleren Éric Rohmer
(den Rohmer der "Komödien und Sprichwörter") denken darf,
oder an den späten Alain Resnais (den Resnais von "Vorsicht Sehnsucht"
zum Beispiel), an jenes Autorenkino also, das populäre Formen gleichzeitig
perfekt emuliert und durchreflektiert; an ein Kino, das manchen als ein konservativer
Verrat an der nouvelle vague erscheint, das aber doch nur mit deren schon immer fragwürdigen
Aufbruchsrhetorik bricht. Weil es um die Komplexität nicht nur der Liebe,
sondern auch der Ästhetik weiß. Ist der erste Satz gesprochen, der
erste Blick gewechselt, kann eine Beziehung nicht mehr auf Null gesetzt werden.
Und ist der erste Film gedreht, dann auch die Filmgeschichte nicht mehr.
Lukas Foerster
Dieser Text ist zuerst erschienen in: www.perlentaucher.de
Die Kunst zu lieben
Frankreich 2011 - Originaltitel: L'art d'aimer - Regie: Emmanuel Mouret - Darsteller:
François Cluzet, Frédérique Bel, Julie Depardieu, Emmanuel
Mouret, Ariane Ascaride, Pascale Arbillot, Judith Godrèche - FSK: ohne
Altersbeschränkung - Länge: 88
min. - Start: 17.5.2012
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