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La
fine del mare
Flüchtige
Schatten
“Welche Geschichten würde das Meer
erzählen, könnte man die Schrift der Wellen lesen?”, heißt es
am Beginn von Nora Hoppes Film „La fine del mare“. Dabei gleitet die Kamera
über das Wasser in einen schier undurchdringlichen Nebel. Grau und bläulich,
fast farblos sind die Bilder des Films auch im Folgenden. Sie zeigen ein verfallenes,
menschenleeres Hafenviertel in Triest, der Stadt des Nirgendwo und der Leere,
als die sie apostrophiert wurde. In einer düsteren, zwielichtigen Spelunke
herrscht ein rauer Umgangston, auf der Straße wird von Hand zu Hand geschmuggelt
und getauscht. Eine zeitlose, flüchtige Stimmung liegt über der Szenerie.
Ihr Widerhall findet sich im Unbestimmten, nur Angedeuteten der Erzählung
und einer Atmosphäre, die ebenso geheimnisvoll wie mythisch ist. Für
Nora Hoppe ist die Wahrheit unter dem Sichtbaren verborgen. Sie sagt: „Dunkelheit
und Leere sind für mich essentiell, weil ich der Überzeugung bin,
dass das eigentliche Wesen des Dramas und das Geheimnis des Lebens in der Sphäre
der Leere liegen; hier finden die wirklichen Verwandlungen statt.“
„La fine del mare“ ist durchdrungen von
einem poetischen Existentialismus, einer Verfallenheit ans Nichts, die sich
fortsetzt in einer umfassenden Heimatlosigkeit der Figuren. Vor allem Todor
(Miki Manojlovic), ein verschlossener Einzelgänger, der vom Zigarettenschmuggel
lebt, ist in diesem Sinne einsam und verloren. Todor betrachtet die geschäftigen
Menschen mit ihren vermeintlichen Zielen, ihr Kommen und Gehen als flüchtige
Schatten. Er ist ein gebranntes Kind: Seine Frau, wie er selbst einst vor dem
Bürgerkrieg in Jugoslawien geflohen, ist vor wenigen Jahren an Krebs gestorben.
Jetzt wird der illusionslose, aber prinzipientreue Held, der eine karge Wohnung
und einen kleinen Kahn besitzt, unfreiwillig in einen Fall von Menschenhandel
verwickelt. In einer Kiste findet er eine verstörte, ausgezehrte Frau.
Nilofar (Diana Dobreva), so ihr Name, ist traumatisiert von ihren Peinigern
und seit frühester Kindheit ohne Zuhause.
Nora Hoppes Film erzählt diese schicksalhafte
Begegnung als behutsame Annäherung zweier verwundeter Seelen inmitten von
Sinnlosigkeit. In langen Einstellungen, ihrem zeitlichen Fluss, deutet sich
eine Verwandlung der anfangs schroff abweisenden, distanzierten Beziehung an.
Nilofar, die zunächst keine körperliche Berührung erträgt
und zugleich mit einer intensiven haptischen Sensibilität begabt ist, fasst
nach und nach Vertrauen zu Todor, lässt seine Nähe zu. Er seinerseits
versteckt und beschützt die Versehrte, pflegt ihre Wunden und besorgt ihr
über den blinden Aurelio (Luigi Maria Burruano), einen Seher mit gutem
Herzen und zugleich ein intellektueller, Schach spielender Säufer, einen
gefälschten Pass für die geplante Flucht nach Paris. Doch was in „La
fine del mare“ an Liebe möglich ist, muss tragisch enden, ohne hoffnungslos
zu sein. Immer wieder setzt Nora Hoppe Zäsuren, schafft sie Ellipsen für
das Unausgesprochene, vielleicht Unaussprechbare. Ihr beeindruckender Film,
dessen Tonfall Assoziationen an die Arbeiten von Sharunas Bartas, Béla
Tarr, Fred Kelemen oder auch Pedro Costa und Lisandro Alonso weckt, bewegt sich
zwischen Expression und Schweigen, zwischen existentieller Einsamkeit und undurchdringlichem
Geheimnis.
Wolfgang Nierlin, 6.
Februar 2009
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: www.karlstorkino.de
La
fine del mare
Deutschland
2006 - Regie: Nora Hoppe - Darsteller: Miki Manojlovic, Diana Dobreva, Luigi
Maria Burruano, Orazio Bobbio, Giuseppe Battiston, Ali Reza Movahed, Angelo
Mammetti, Lorenzo Acquaviva - FSK: ab 12 - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 107
min. - Start: 13.12.2007
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