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La marche á suivre - Guidelines
Ein Auto nähert sich einem Wasserloch auf einer überschwemmten
Straße. Anstatt das Hindernis schnell zu passieren, fährt es darin
solange lustvoll hin und zurück, bis schließlich eine Person ins
Bild kommt, die die Aktion mit dem Smartphone dokumentiert.
Genau diese Sorte von Selbstinszenierungen vor laufender Kamera hat der Filmemacher
Jean-François Caissy in seiner dritten langen Dokumentation zu vermeiden
versucht, weshalb er sich konsequent von Schuss-Gegenschuss-Konventionen verabschiedet.
Caissy, der von der Kunst-Fotografie kommt, wählt stattdessen eine Reihe
von meisterlichen, wenngleich unspektakulären Breitbild-Tableaus, die die
Figuren erst während des Drehs „betreten“. So sieht man zwei Stangen auf
einem Rasen und hört aus dem Off ein paar Jugendliche. Erst als sie ins
Bild kommen, erkennt man, dass es sich um ein provisorisches Fußballtor
handelt. Mit dem Spielverlauf entfernen sich die Spieler dann wieder aus dem
Tableau, sind nur noch zu hören.
Diese Tableaus dienen als Interpunktionen zwischen einer ganzen Reihe
von persönlichen Gesprächen, die von Sozialpädagogen mit Schülern
und Schülerinnen der „École Antoine Bernard“ in der frankokanadischen
Provinz geführt werden. In Einzel- oder Zweiergesprächen geht es um
Mobbing, Disziplinprobleme, Beleidigungen, Prügeleien, Drogenmissbrauch,
das Stören des Unterrichts, Schwänzen und allerlei andere Auffälligkeiten.
Auch hier bleibt die Kamera ganz diszipliniert bei den Jugendlichen; die Stimmen
der Sozialpädagogen kommen aus dem Off. Dafür hat man Zeit, die Schülern
zu beobachten, die sich manchmal hinter ihren Haaren verstecken, die bockig
sind und nur sehr widerstrebend „zur Sache“ sprechen. Es bleibt offen, inwieweit
es sich bei den Vorgeladenen um besonders schwierige Schüler handelt. Allerdings
fällt auf, dass die Kommunikation zwischen den Sozialpädagogen und
den Lehrkräften an der Schule sehr intensiv sein muss, denn immer wieder
wird den Schülern klar gemacht, dass man um sie und ihre Probleme weiß,
und dass im Gespräch an ihre Einsicht appelliert wird.
Durch die Geduld und die teilweise explizit gewahrte Distanz, mit der die Kamera teilweise aus der Entfernung oder durch Fenster beobachtet, signalisiert die Inszenierung neugierige Empathie. In den Gesprächen wird aber auch deutlich, wie schwierig es für die Jugendlichen mitunter ist, ihr Verhalten und die damit verbundenen Probleme „rational“ zu formulieren. Wenn sie versuchsweise wieder ins Kindliche flüchten, kann einem das Eingangsbild mit dem Auto und der Pfütze wieder in Erinnerung kommen.
Die Schüler, die zum Teil einen sehr weiten Schulweg haben, verbringen
viel Zeit in der Schule: sie trainieren in der Sporthalle, erledigen die Hausaufgaben
und vertreiben sich die Zeit, bis der Schulbus sie am Abend nach Hause bringt.
In einer der schönsten Einstellungen gelingt es Caissy und seinem Kameramann
Nicolas Canniccioni, zu den Klängen von Steve Reichs „Music for 18 Musicians“
aus an- und abfahrenden Schulbussen eine regelrechte Choreografie zu montieren.
Der Film zeigt die Jugendlichen aber auch bei ihren Freizeitbeschäftigungen
außerhalb der Schule. Je nach Jahreszeit und Alter fährt man Fahrrad,
Quads, Motorschlitten, probt mit der Heavy-Metal-Band im Übungsraum, springt
von einer Eisenbahnbrücke in einen Fluss oder signiert Straßen mit
den Spuren der Pneus. Dabei wird mit unterschiedlichsten Fahrzeugen so viel
Staub aufgewirbelt und Qualm produziert, dass eine unmittelbare Beobachtung
gerade unmöglich wird. Dieses selbstbezogene Vergnügen der Jugendlichen
steht in deutlichem Kontrast zu den Übungen, sich im Gespräch Rechenschaft
über sich selbst abzulegen und mit Kritik produktiv umzugehen. Die Schule
fungiert als der Ort, an dem die Gesellschaft die Gelegenheit nutzt, Jugendliche
auf geltende „Richtlinien“ aufmerksam zu machen, bevor sie ins Leben entlassen
werden. Wenn ein Schüler den Sozialpädagogen vorwirft, dass sie kein
Vertrauen in ihn hätten, anstatt seine Sachen hinzuwerfen und wütend
den Raum zu verlassen, dann scheint der Prozess der Erziehung erfolgreich gewesen
zu sein.
Caissy zeigt all die Schwierigkeiten und Rückschläge auf dem Weg dorthin, aber mit großer Sympathie auch das, was diesem Prozess an Freiheit geopfert wird. Da dies zugleich mit einem abstrahierend-souveränen Stilwillen auftritt, zählt „La marche à suivre“ zu einer der bemerkenswertesten Studien über „Jugend“ seit Langem.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in : filmdienst 20/2015
La marche à suivre - Guidelines
(LA MARCHE À SUIVRE) - Kanada 2014 - Produktionsfirma: Office national du film du Canada - Regie: Jean-François Caissy - Produktion: Johanne Bergeron - Buch: Jean-François Caissy - Kamera: Nicolas Canniccioni - Schnitt: Mathieu Bouchard-Malo - Kinostart(D): 08.10.2015 - 76 Min. - Verleih: arsenal institut
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