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Le
Bal
»Le Bal«, so bemerkt Ettore
Scola zu seinem Film, beschreibe drei Themenkreise: die Zeit, die Einsamkeit
und die Geschichte. Ein nicht geringer Anspruch, wenn man bedenkt, daß
der Film völlig auf das gesprochene Wort verzichtet und statt
dessen einzig auf die Ausdruckskraft von Musik und Tanz als Medien des
Zeitgeistes setzt. Gleichwohl fällt »Le Bal«, der in Berlin
mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, aus der Reihe der zur
Zeit wieder beliebten Musik- und Revuefilme.
Angeregt von einer Inszenierung des in
Frankreich populären „Théâtre du Campagnol", unternimmt
der Film den Versuch, Stationen der französischen Geschichte aus der Perspektive
des 'kleinen Mannes' tableauhaft nachzuzeichnen. Schauplatz ist ein Pariser
Tanzcafé, in das, begleitet von gängigen Discorythmen, nacheinander
neun Frauen eintreten: kokette, verklemmte, affektierte oder verschüchterte
Damen, die sich, nachdem sie an der voyeurhaft plazierten Kamera vorbeidefiliert
sind, einzeln an den Tischen um die Tanzfläche verteilen. Ihnen folgt eine
Männerriege von Machos, schmalbrüstigen Intellektuellen. Provinzgigolos,
die sich das 'Angebot' neugierig, draufgängerisch oder zaghaft -je nach
Tvp - betrachten. Fremdheit allenthalben, das kleine Glück will sich auch
beim beginnenden Tanz nicht einstellen. Je näher man sich zu kommen sucht,
umso mehr wird sich jeder seiner Isoliertheit bewußt. Am Ende verlassen
alle das Café so, wie sie gekommen sind: allein.
Anders im Jahr der Volksfront, 1936, in
das »Le Bal« zurückblendet. Wird der Tanz hier, bei Paso Doble,
Walzer und Tango zum Ausdruck einer gemeinsamen (politischen) Sache, so symbolisiert
er im Jahr 1940 - nicht wenig beschönigend - die geschlossene Front gegen
die Nazi-Okkupanten.
Befreiung, Amerikanisierung, Swing und
Coca Cola; Algerienkrieg und Rock'n Roll, Mai
'68 und die Internationale sind die weiteren Stationen von Scolas Parade durch
die jüngere französische Geschichte, wobei die szenischen Arrangements
zunehmend durchschaubarer werden und sich über weite Strecken in einer
- wenn auch perfekt inszenierten - Bebilderung des jeweiligen Zeitgeistes erschöpfen.
Hinter der Rasanz des Films verbergen sich nur wenig originelle Perspektiven
auf die Vergangenheit; allzu sehr wird zuweilen die politische Aussage zugunsten
tänzerisch-musikalischer Schau-Werte zurückgedrängt und nicht
selten auch verzerrt: Der einbeinig mittanzende Resistancekämpfer wie der
schleimige Kollaborateur erscheinen mir als allzu klischeehafte und dezente
Anspielungen auf die Zeit der Nazi-Besatzung. Ebensowenig überzeugt die
Reduzierung der Ereignisse um den Mai '68 auf einige steinewerfende Milchbärte,
die ihren revolutionären Elan offenbar aus dem braven Beatles-Softie „Michelle"
beziehen.
Die Stärke des Films, der eine Fülle
von filmgeschichtlichen Anspielungen (vor allem auf Jean Gabin) enthält,
liegt vornehmlich in der subtilen Beobachtung menschlicher Eigenheiten und Marotten.
»Le Bal« wirkt am eindrucksvollsten dort, wo Scola auf die große
historische Geste verzichtet, nicht vom Gang der Geschichte erzählt, sondern
in der Einsamkeit der Menschen der Gegenwart ihren Stillstand bezeugt.
Raimund Gerz
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: epd Film 3/1984
Le
Bal
LE
BAL
Frankreich/Italien/Algerien
1983. Regie: Ettore Scola. Drehbuch: Ruggero Maccari, Jean-Claude Peuchenat,
Furio Scarpelli, Ettore Scola (nach der Inszenierung des „Theatre du Champagnol"
und einer Idee von Jean-Claude Penchenat). Kamera:
Ricardo Aronovich. Schnitt: Raimondi Crociani. Ton: Bruno Le Jean, Corrado Volpieelli.
Ausstattung: Luciano Ricceri. Kostüme: Ezio Altieri, Françoise Tournafond.
Produktion: Cineproduction S.A./Films A2/Massfilm/Oncie. Gesamtleitung:
Franco Committeri. Produzent: Giorgio Silvagni. Verleih: Concorde. Länge:
112 Min. Deutsche Erstaufführung: 17.2.1984. 34. Internationale Filmfestspiele
Berlin. Kinostart: 24.2.1984. Darsteller: Christophe Aliwright, Aziz Arbia,
Marc Merman, Regis Bouguet, Chantal Capron, Martine Chauvin, Liliane Delval,
Francesco de Rosa.
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