zur startseite
zum archiv
zu den essays
Lee Scratch Perry's Vision of Paradise
Wer oder was ist Lee „Scratch“ Perry, the mighty Upsetter? Ein Space
Traveller? Ein Clown? Ein Verrückter? Ein Scharlatan? Ein seltsamer Reggae-Heiliger
mit sehr exzentrischem Kleidungsgeschmack, der öffentlich Ganja preist
und Tabak verdammt? Oder doch eher ein Kreativer? Der Großvater der modernen
Tanzmusik? Einer der bedeutenden Musiker des 20. Jahrhunderts? Ein Genie? Ein
Visionär? Ein Revolutionär?
Um seinem ambitionierten Filmporträt dieser schillernden Persönlichkeit
die nötige Fallhöhe zu verschaffen, versammelt der Filmemacher Volker
Schaner zunächst einmal einschlägige Zeugen wie die Musikerkollegen
Adrian Sherwood, Dennis Bovell oder – Überraschung! – Irmin Schmidt (Can),
der nicht von Holger Czukay, sondern von Perry gelernt haben will, das Studio
als Instrument zu nutzen. Diese Zeugen dienen zur objektivierenden Einschätzung
eines Künstlers, dessen Wirken dann letztlich umfassend heute doch nur
einer Gruppe von Spezialisten bekannt sein dürfte. Damit ist schon mal
klargestellt: für den musikinteressierten Mainstream ist dieser Film nicht
gedacht. Obwohl Perrys Bedeutung in der Geschichte der populären Musik
nach 1970 nicht in Frage steht.
Die Fakten sind imposant genug: Lee „Scratch“ Perry, Jahrgang 1936,
gehörte zu den Förderern Bob Marleys, als der noch nicht als Botschafter
des Rastafarismus die Stadien füllte, sondern zunächst einmal
seinen eigenen künstlerischen Ausdruck finden musste. Mitte der 1970er
etablierte Perry in Kingston, Jamaika sein legendäres „Black Ark“-Studio,
in dem zahllose Reggae-Klassiker und ihre Dub-Versionen entstanden, weil Perry
es meisterhaft verstand, mit nicht sonderlich elaboriertem Studio-Equipment
raffinierteste Soundscapes zu basteln, die ihn auch in Europa zu einer Legende
werden ließen. Als er Ende der 1970er-Jahre, nachdem er sein Studio zerstört
hatte, nach England kam, standen seine Bewunderer und Schüler Schlange,
um mit ihm arbeiten zu dürfen.
Seit vielen Jahren lebt Perry mittlerweile in einem Dorf in der Schweiz,
wo er sich auch ein neues Studio eingerichtet hat. Letztere Tatsache dürfte
die Produktion des Films befördert haben, denn so war der Musiker „verfügbar“,
allerdings nur im Rahmen seines spezifischen Temperaments. Man muss sich „Lee
Scratch Perry’s Vision of Paradise“ als eine mit etwas Hintergrundmaterial angereicherte
Dauer-Audienz vorstellen, deren hoher Unterhaltungswert daher rührt, dass
Perry seine Sicht der Dinge vorzugsweise in biblisch bildreichen Patois-Wortspielen
preisgibt. So sieht sich der Mann, der sein Studio „Black Ark“ nannte, durchaus
auch als Noah, der Töne sammelt. Daraus wird dann die exemplarische Reihe:
Noah has the power, Noah and the Ark, Noah and the Art. Um die Queen of England
als Wurzel des babylonischen Übels zu erniedrigen, findet sich ein Bild
von ihr auf der Unterseite von Perrys Einlegesohle. Perry gibt sich wahlweise
als Weiser und als kichernder Kobold – und lässt dem Filmemacher Schaner
wenig andere Möglichkeiten, als ihm mit der Kamera zu folgen und ihm Einsichten
abzulauschen wie: „Unsere Schatten sind alle gleich ... schwarz!“
Auf der Strecke bleibt bei all dem leider die Musik, die lediglich als Hintergrund-Sound
zu hören ist, während im Vordergrund die ausgestellte Verrücktheit
Perrys präsentiert wird, die allerdings auch kalkuliert erscheint.
Der Film, an dem seit 1999 gearbeitet wurde, begibt sich in mehrfacher Hinsicht mit Perry auf die Reise, besucht ihn in der Schweiz, beobachtet ihn bei der Arbeit und auf der Bühne und begleitet ihn schließlich in seine Heimat Jamaika. Kurzum: wer sich im spirituellen Gedankengebäude des afrodiasporischen Rastafarismus etwas auskennt, wer sich für den klassischen Reggae der 1970er- und 1980er-Jahre und die Ästhetik des Dub interessiert, wird sich für die liebevoll „verrückte“ Musikdokumentation begeistern. Wer sich von all dem nicht berührt zeigt, bleibt allerdings bei den puzzleartigen Impressionen von der konsequenten Selbst-Mythologisierung eines Genies außen vor: irritiert bis ratlos.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: FILMDIENST 6/2016
Lee Scratch Perry's Vision of Paradise
Deutschland/Großbritannien/Schweiz/Jamaika/Äthiopien 2015 - Produktionsfirma:
Fufoo Film/Schmid Kodex/ZDF - Regie: Volker Schaner - Produktion: Volker Schaner
- Buch: Volker Schaner - Kamera: Guy Leder, Joseph Zafar, Kevin Merz - Musik:
Lee "Scratch" Perry, The Orb, Adrian Sherwood - Schnitt: Kashi Grobe,
Adriana Villanueva, Volker Schaner - Start(D): 24.3.2016 - 100 Min. - Verleih:
Interzone
zur startseite
zum archiv
zu den essays