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Le Havre
Das ist in Le Havre passiert, vielleicht, vor gar nicht allzu langer
Zeit. Soll man die Geschichte erzählen? Es glaubt sie ja doch niemand.
Da ist also dieser ältere Herr, Marcel Marx, der früher einmal ein
Künstler war und ein Bohemien, wie er im Buche steht. Jetzt lebt er in
einer eigenen, bescheidenen Welt, mit seinem vietnamesischen Freund schlägt
er sich als Schuhputzer durch. Seine Frau Arletty passt auf ihn auf und sein
Hund Leica. Hier und da borgt er sich ein Baguette in der Bäckerei von
Yvette, hat Schulden beim Lebensmittelhändler, trinkt ein Gläschen
in der Bar von Claire. Das Leben könnte so weiter gehen bis zum Schluss.
Marcel kann eigentlich niemand böse sein, denn im Grunde ist jetzt sein
Leben ein Roman. Aber da geschehen zwei Dinge. Arletty wird krank und muss ins
Hospital. Und Marcel gabelt den jungen Idrissa auf, der aus einer Gruppe von
Flüchtlingen aus Gabun den Polizisten entkommen konnte. Marcel Marx versteckt
den Jungen bei sich, dessen großer Wunsch es ist, nach London zu kommen,
zu seinen Verwandten.
Bei dem Unternehmen, den Jungen zu verstecken und das Geld für
die Überfahrt zusammen zu bringen, helfen alle Bewohner des Viertels, was
nicht leicht ist, weil ein Denunziant umgeht, und weil Inspektor Monet von seinem
Vorgesetzten dringlich darauf hingewiesen wurde, dass der Junge unter allen
Umständen zu finden sei, die Presse ist schon aufmerksam. Arletty muss
erfahren, daß sie Krebs hat und nicht mehr lange leben wird. Um das Geld
für Idrissas illegale Überfahrt nach London zu bekommen, soll ein
Benefizkonzert des Rock’n’Roll-Sängers Little Bob sorgen. Der muss aber
zuerst mit seiner Freundin versöhnt werden. Beim Konzert, Little Bob hat’s
wirklich noch drauf, kommt dann doch die Polizei, während Idrissa Arletty
im Krankenhaus besucht.
Ich könnte jetzt die Geschichte zu Ende erzählen, aber Sie
glauben sie ja doch nicht. Es ist ein Märchen. So etwas kann man ganz fürchterlich
erzählen, mit den Mitteln des deutschen Fernsehfilms zum Beispiel, oder
eines »Feelgood-Movie« oder der neuen französischen Provinzkomödie.
Aber Aki Kaurismäki erzählt diese Geschichte so wunderbar kunstvoll,
lakonisch, komisch und menschlich, dass man sich gar nicht schämen muss,
wenn einem zwei, drei Mal die Tränen kommen.
Ein Märchen, wie gesagt. Solche Straßen, solche Läden,
solche Bars und solche Menschen gibt es nicht mehr. Hat es nie gegeben. Höchstens
im Kino, in der Literatur, in Träumen. Die Figuren dieses Films tun auch
nicht so, als wären es echte Menschen. Es sind aber Augenblicke des Menschlichen.
»In meinen Filmen gibt es keine Symbole«, sagt Aki Kaurismäki.
Das sagt sich so einfach. Und es ist vielleicht der Schlüssel für
seine Poetik. Die Dinge sind nichts anderes als das, was sie sind. Die Menschen,
die agieren, nichts anderes als Segmente des Lebens. Eine Ananas ist nichts
anderes als eine Ananas, auch wenn es noch so komisch ist, dass der Inspektor
sie beim Lebensmittelhändler gekauft hat und nun in der Bar zwischen sich
und Claire auf den Tisch stellt, mit der ihn eine andere Geschichte verbindet.
Wenn die Dinge keine Symbole sind, strahlen sie eine eigenartige autonome Würde
aus.
In Kaurismäkis Filmen aber wird das Leben zur Kunst. Die kann
nur gelingen, wenn jedes Detail stimmt. Jedes Detail in einem Kaurismäki-Film
ist notwendiges Element eines anti-symbolischen Kunstwerkes, das entsteht, nicht
weil es die Wirklichkeit abbildet, sondern weil es aus ihr gegriffen ist. Man
dürfte nichts wegnehmen, nicht das Gelb des Kleides, das sich Arletty wünscht,
für ihre letzten Tage und nicht die Nahaufnahmen auf Marcels Hände,
wenn er es in Packpapier schlägt. Die kleinen Dinge werden groß.
Und die großen klein. Das wird gezeigt, nicht mehr und nicht weniger.
Mit jener Geste der schwermütigen Leichtigkeit, die wir von Bresson, Melville,
Carné oder Tati kennen. Jede Figur, jeder Ort, jedes Kostüm in »Le
Havre« ist eine Spur zu ihnen. Auch die Ananas. Jean-Pierre Léaud
als getriebener Denunziant und Pierre Étaix als Doktor tun ein Übriges.
Dieses Märchen ist durch und durch Film. Plus der unglaublich präzis
und schön eingesetzten Musik, wie wir es von Kaurismäki kennen. Aber
zur gleichen Zeit ist »Le Havre« auch ein radikales und unmissverständliches
Statement zur Frage von Flucht und Asyl: Können wir uns, verdammt noch
mal, nicht einfach wie Menschen benehmen, wenn andere Menschen Hilfe brauchen?
Im Märchen wird man dafür natürlich auch belohnt. Durch ein Wunder
der Liebe, durch den Beginn einer wundervollen Freundschaft bei einem Glas Calvados.
Durch das Blühen des Bäumchens vor dem Haus.
Manchmal kommt man mit einem Märchen der Wirklichkeit viel näher
als mit dem so genannten Realismus.
Note: 2-
Georg Seeßlen
Dieser Text ist zuerst erschienen in: www.strandgut.de
Le Havre -Finnland / Frankreich / Deutschland 2011 - Regie: Aki Kaurismäki - Darsteller: André Wilms, Kati Outinen, Blondin Miguel, Laika, Jean-Pierre Darroussin, Elina Salo, Kuoc-Dung Nguyen, Evelyne Didi, Pierre Étaix - FSK: ohne Altersbeschränkung - Länge: 93 min. - Start: 8.9.2011
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