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Der letzte der Ungerechten
Porträt eines Tigers
In seinem neuen Film „Le dernier des injustes“ spricht Claude Lanzmann mit Benjamin Murmelstein, einst Vorstand des Judenrats von Theresienstadt.
In Minute Zehn füllt ein Schwarzweißfoto die Leinwand.
Es zeigt einen schlammigen Weg, darauf ein Pulk von etwa 200 Menschen, aufgenommen
in der Nähe der tschechischen Ortschaft Terezín. Auf der Fotografie
steht ein Einzelner neben der Menschengruppe, er schaut in Richtung Kamera und
trägt eine Armbinde, das Abzeichen ist nicht zu entziffern.
Ein Archivbild wie dieses wäre nichts Ungewöhnliches für
jeden anderen Dokumentarfilm mit historischem Sujet. Für Claude Lanzmanns
jüngsten Film „Le dernier des injustes“, der Benjamin Murmelstein, den
Vorstand des Judenrats von Theresienstadt, porträtiert und am Sonntag [27.11.2013
- die filmzentralen-Redaktion] in Berlin seine deutsche Erstaufführung
erlebt, ist es eine Sensation. Denn bis dato hat sich der Pariser Filmemacher,
dessen „Shoah“ (1985) einen Meilenstein in der Auseinandersetzung
mit dem Holocaust bildet, dem Archivbild verweigert. Unter anderem deshalb,
weil Archivmaterial oft die Perspektive der Täter wiedergibt und weil es
den Eindruck erweckt, man müsse etwas beweisen. Wer aber nun meine, Beweise
für den Holocaust anführen zu müssen, so die Argumentation, tappe
schon in eine Falle, denn die Vernichtung der europäischen Juden durch
die Nationalsozialisten ist eine Tatsache von so fundamentaler Unumstößlichkeit,
dass Beweisen etwas Unziemliches eignet.
Vor gar nicht so langer Zeit wurde diese Debatte noch erbittert geführt.
Der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman veröffentlichte 2004 sein Buch
„Images malgré tout“ („Bilder trotz allem“), darin setzte er sich mit
Fotografien auseinander, die Angehörige eines Häftlings-Sonderkommandos
in Auschwitz-Birkenau aufgenommen hatten. Unter Einsatz ihres Lebens und aus
großer Distanz fotografierten sie, wie andere Häftlinge Leichen in
Massengräbern verscharrten. Dafür wurde Didi-Huberman in der von Lanzmann
herausgegeben Zeitschrift Les temps modernes scharf angegriffen.
Szenen aus NS-Propaganda
Heute scheint sich Lanzmann vom einstigen Dogma so weit gelöst zu haben,
dass er in „Le dernier des injustes“ („Der letzte der Ungerechten“) einiges
an Archivmaterial verwendet, vor allem Zeichnungen der Häftlinge von Theresienstadt,
aber auch Szenen aus einem nationalsozialistischen Propagandafilm. Alte Herren
spielen Schach, und in einer Werkstatt schneiden gut gelaunte Arbeiter und Arbeiterinnen
Leder für Schuhe zu. Es sind Inszenierungen der Nazis. Ihr Zweck war es,
die internationale Gemeinschaft zu täuschen. Auf einer der historischen
Aufnahmen sieht man die Hauptfigur des Films. Benjamin Murmelstein war Rabbiner
in Wien, nach dem Anschluss Österreichs war er für die „Zentralstelle
für jüdische Auswanderung“ tätig, der Adolf Eichmann vorstand.
Später gehörte er zum Judenrat von Theresienstadt, im Herbst 1944
schließlich übernahm er dessen Leitung. Das Thema der Judenräte
war lange Zeit noch viel heikler als das der Archivbilder – man denke nur an
die erbitterten Diskussionen, die Hannah Arendt mit ihrem Buch „Eichmann in
Jerusalem“ (1963) und der darin enthaltenen Kritik am Vorgehen der Judenräte
auslöste.
Zwischen Widerstand und Willfährigkeit
Für die einen stand fest, dass die Judenräte durch ihre Verwaltungstätigkeiten
der Vernichtungspolitik der Nazis zuarbeiteten, für die anderen waren sie
diejenigen, die das Schlimmste zu verhindern suchten. Jüngere Studien wie
etwa die des Historikers Yehuda Bauer kommen zu dem Schluss, dass sich Judenräte
von Ort zu Ort unterschiedlich verhielten – zwischen Widerstand und Willfährigkeit
war das Feld weit. Benjamin Murmelstein saß nach dem Krieg 18 Monate in
Prag im Gefängnis, da ihm Kollaboration zur Last gelegt wurde. Als der
Prozess gegen ihn endlich stattfand, wurde er von allen Anklagepunkten freigesprochen.
Lanzmann interviewte ihn 1975 in Rom. Ursprünglich waren die Aufnahmen
für „Shoah“ geplant, doch da „Shoah“ um die Toten kreist, wäre Murmelstein,
pragmatisch und munter, wie er ist, aus dem Rahmen gefallen. Das Material lag
brach. In den Interviewsequenzen ist meist Murmelstein in Nahaufnahme zu sehen,
Lanzmann ist über seine Stimme und den Rauch seiner Zigarette präsent.
Murmelstein ist eloquent, um Metaphern und Analogien nie verlegen, gern rekurriert
er auf Literatur und Mythologie. Seine Ausführungen bergen viele Details,
die Aufschluss darüber geben, wie die Nazis den Holocaust organisierten.
Studium der Auswanderung
Ihnen eignet aber auch eine Ambivalenz – etwa wenn Murmelstein über die
Jahre 1938 und 1939 sagt: „Eichmann hat bei mir Auswanderung studiert.“ Lanzmann
bemerkt einmal konsterniert: „Wenn man Sie sprechen hört, hat man nicht
den Eindruck, dass Theresienstadt ein Ort des Unglücks war.“ In einigen
Sequenzen geht Lanzmann selbst durch Theresienstadt. Durch leer stehende Häuser
streift er, man sieht ihm die Anstrengung an, wenn er die Treppen bis zum Speicher
hinaufsteigt. Einst lagen hier die Alten, erklärt er, unfähig, sich
aufzurichten, von Läusen und der Sommerhitze geplagt, ohne Waschbecken,
ohne Toilette. Seine Sätze fallen einem wieder ein, wenn Murmelstein zwei
Stunden später sagt: „Wir haben mustergültige Altenheime aufgebaut“
und von den sauberen Laken und den Pflegern schwärmt.
Obwohl er solche Ambivalenzen zum Vorschein bringt, verneigt sich „Le dernier des injustes“ tief vor seiner Hauptfigur. „Sie sind ein Tiger“, sagt Lanzmann in der letzten Szene zu Murmelstein.
Cristina Nord
Dieser Text ist zuerst erschienen in der: taz
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Der letzte der Ungerechten
(Le Dernier des Injustes) - Frankreich/Österreich 2013 - 218 Minuten -
Regie: Claude Lanzmann - Drehbuch: Claude Lanzmann - Produktion: Thibault Mattei
- Iris Wegscheider (Dor-Film, Wien) - Kamera: Caroline Champetier - Starttermin
(D): unbekannt
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