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Das letzte Schweigen
Ein insistierender, vage an Bernard Herrmanns Hitchcock-Scores erinnernder Geräuschteppich, vermischt mit fernen Kinderschreien,
macht von Anfang an klar, womit man es hier zu tun hat: Thrill, Horror
– Tote sind nur eine Frage der Zeit. Die Kamera fährt derweil auf eine
Wohnungstür zu. Das Innere ist ins Halbdunkel getaucht, Vorhänge sperren
das Sonnenlicht aus, ein Ventilator dreht sich. Ein Bild wird von einem Filmprojektor
an die Wand geworfen, das ein ängstliches Mädchengesicht zeigt. Dann
ist der Film vorbei und ein harter, eindeutiger Schnitt führt auf den Unterleib
eines Mannes. Noch ein zweiter sitzt da, dann sieht man beide wegfahren. „8.
Juli 1986“ wird eingeblendet. Es folgen eine Vergewaltigung und der Mord an
einem jungen Mädchen. Der Zuschauer ist sich also nicht im Unklaren darüber,
wer hier die Täter sind.
Dann springt die Handlung in die Gegenwart. Timo ist
jetzt Architekt und verheirateter Familienvater in einem Nachbarort. Deutsche
Vorstadtverhältnisse: Gutsituierte Familien in Bungalows mit Garten und
zwei Autos, die Kinder spielen Tennis. Eine Familie lernt man näher kennen.
Man ahnt, dass die Tochter das nächste Opfer ist. Hinzu kommen ein paar
weitere Figuren: die Mutter des 1986 ermordeten Mädchens, der Mikrokosmos
der örtlichen Polizei, allesamt interessante, gut entworfene Figuren –
eine beachtliche Leistung für einen Debütfilm. Regisseur und Drehbuchautor
Baran bo Odar gewann zudem eine hochkarätige Besetzung, darunter
Ulrich Thomsen in der Rolle eines Mörders von stiller, fröhlicher
Bosheit. Auch visuell ist der Film gelungen. Abgesehen vom zu häufigen
Zeitlupeneinsatz und unnötigen Hubschrauberflügen findet die Kamera
treffende Bilder und einen passend Grundton. An der Story irritiert hingegen,
dass bis zum Ende viele Motive nicht weiter verfolgt werden, obwohl ihre Spuren
so gelegt werden, dass jeder mitdenkende Zuschauer nur auf ihre Entschlüsselung
wartet. Leider bleibt auch der Charakter der Täter unscharf. In der Fülle
der Figuren und ihrer Geschichten zeigt sich zudem ein grundsätzliches
Manko: „Das letzte Schweigen“ will zu viel auf einmal und sucht bis zum Ende
seinen Fokus. Außerdem „mischt“ der Film allerlei: eine subtil-humorvolle
Provinzfarce a la „Fargo“ (fd 32 223), ein düster-bedrohliches Serienkiller-Movie, das Porträt eines Mörders, der mit seiner Tat nicht fertig
wird. Das „zweite Gesicht“ des empfindsamen Ermittlers gehört eher zu einem
Mystery-Thriller. Selbst Züge eines Sozialmelos fehlen
nicht. Vor allem aber scheint sich der Regisseur nicht zwischen Horror- und
Thrillergenre entscheiden zu wollen, obwohl beides atmosphärisch
sehr Verschiedenes verlangt.
So weiß man am Ende nicht, was der Film will. Auch
fehlt ihm der Pay-off: Weder wird auf der visuellen Ebene wirklich Hartes geboten,
noch echter Thriller-Suspense, noch ein analytischer Mehrwert im Sinne von Einsichten
ins universal Menschliche oder in gesellschaftliche Zusammenhänge. Irgendetwas
davon, zumindest eine Andeutung darf man auch von einem Debütfilm verlangen.
Eine solche „zweite“ Ebene ist genau das, was Hitchcock oder Melville bis heute
zu Meistern des Genrekinos macht. Die vielen verheißungsvollen Ansätze
verlaufen im Nichts, weil im entscheidenden Moment die künstlerische Radikalität fehlt, der Mut, sich auf die Seite der eigenen Einfälle
zu schlagen. „Das letzte Schweigen“ ist insofern eine typische „Visitenkarte“,
mit der sich sein Regisseur für Zukünftiges empfiehlt. Der Film ist
damit genau das, was die deutsche Förderlandschaft mit all ihren systembedingten
Widersprüchen und uneingestandenen Lebenslügen derzeit an Genrekino
gerade noch zulässt. Für die Macher ist das ein beachtlicher Erfolg.
Rüdiger Suchsland
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst
Das letzte Schweigen
Deutschland 2009 - Regie: Baran bo Odar - Darsteller: Ulrich Thomsen, Wotan Wilke Möhring, Katrin Sass, Burghart Klaußner, Sebastian Blomberg, Karoline Eichhorn, Roeland Wiesnekker, Claudia Michelsen, Oliver Stokowski, Jule Böwe
- Länge: 118 min. - Start: 19.8.2010
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