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Letztes
Jahr in Marienbad
Triumph
der Filmkunst
Endlich,
endlich, ist er also da: 1961 schien „Letztes Jahr in Marienbad“ mangels Verleihs
schon einen leisen Tod zu sterben, bevor er überraschend den Goldenen Löwen
in Venedig gewann und zu einem internationalen Filmkultphänomen wurde;
und nun, 47 Jahre später, erscheint einer der meistdiskutierten, meistanalysierten
und zweifellos auch einer der beeindruckendsten Filme der Geschichte endlich
in einer deutschen DVD-Edition.
Was
kann dieses Relikt, in der formalistisch strengen Architektur des Münchner
Schlosses Nymphenburg gedreht und mit seiner bewusstseinsströmenden Erzählung
den längst vergangenen Moden des Nouveau roman folgend, uns heute noch
sagen? Resnais’ exquisites Rätsel muss auf heutige Zuschauer wirken wie
ein David-Lynch-Film im Smoking; und tatsächlich verliefen die Diskussionen,
mit denen der Film Anfang der Sechziger eine Filmsaison lang alle Cineasten
auf Trab hielt, in ähnlichen Leitlinien wie heutige Feuilleton-Analysen
von „Mulholland
Drive“:
Man wird von Möbiusbandstrukturen verwirrt, vom antinaturalistischen Posenschauspiel
verzaubert, man verliert sich in der labyrinthischen Rauminszenierung und verdächtigt
die fragmentierte Filmhandlung, in Wirklichkeit Traum, Vision oder Wahnvorstellung
zu sein. In diesem Sinne zeigt der Film ein Kunstverständnis, das in seiner
totalen Abstraktion über die referenzsüchtige Postmoderne hinausschießt
– und heute aktueller ist denn je.
Wie
immer man ihn interpretiert: Unbestritten ist, dass allein die Bildgestaltung
ein Vielfaches des DVD-Preises wert ist: Wie Gemälde zaubert Resnais eine
nach der anderen seiner teils unheimlichen, teils ikonisch angehauchten Kompositionen
auf die Leinwand. Die Menschen darin sind, mit Ausnahme des namenlosen Protagonisten,
seiner vermeintlichen Geliebten und deren Ehemann, ebenso Staffage wie der Zierstuck,
die Marmorstatuen und die symmetrisch gestutzten Bäume – und ebenso exquisit
in ihren wiederkehrenden Mustern.
Doch
„Marienbad“ ist viel mehr als ein schön verpacktes, süßes Nichts
aus endlos wiederholten Dialogen, willkürlich ein- und ausgeblendetem Dialogton
und wächsernen Charakteren: In seinem Kern versteckt sich ein wahrlich
grenzensprengender Liebesfilm, wenn nicht gar der prototypische Liebesfilm schlechthin.
Bei aller Zerebralität kocht unter dieser so perfekten Oberfläche
aus Abendkleidern, Fracks und Rauchersalons eine explosive Leidenschaft, die
im starken Kontrast zur hochformalen, kafkaesken Kühle der Bilder steht:
In alternativen Realitäten, die hier durchgespielt werden (oder ist es
alles nur eine alternative Realität?) geht es um Sex und Tod, um Betrug
und Vertrauen, um die Natur der Erinnerung und um die Sehnsucht, die nie erlischt.
Dies ist vielleicht die größte Überraschung bei Wiederansicht
dieses Klassikers: dass der Film so bewegend, so mitreißend und lebendig
ist.
Bevor
nun noch weitere Generationen von Filmwissenschaftsstudenten dieses Meisterwerk
des irrealen Films in dem nicht immer schmeichelhaften Licht der Dramaturgieseminare
kennen lernen müssen, hat sich Arthaus, der weit und breit einzige deutsche
DVD-Verleih, der einen Vergleich mit der formvollendeten amerikanischen Criterion
Edition nicht zu scheuen braucht, endlich an eine deutsche Ausgabe dieses cineastischen
Monolithen herangewagt – und zeigt all den Zeitungseditionen der letzten Jahre,
wie man einen Filmklassiker herauszubringen hat: Die Schärfe dieser gründlichen
Restaurierung ist bestechend, die Kontraste glorios, das Schwarzweiß betörend
schön.
Dazu
gibt es Luc Lagiers begleitenden Essayfilm „Dans le labyrinthe de Marienbad“,
der schon die britische Optimum-Ausgabe schmückte und der auf 35 Minuten
kongenial zum Hauptfilm eine ganze Handvoll gegensätzlicher Interpretationsmuster
aufschließt, sie mit Hilfe geschickt montierter Filmsequenzen untersucht
– und dann wieder verwirft. Er bietet die bestmögliche Begleitung für
diesen Film. Auch die sanfte, laszive deutsche Synchronisation wird dankbar
angenommen, für sie werden sogar Freunde von Originalversionen (die hier
natürlich auch die französische Tonspur finden) dankbar sein: Selten
hatte man in einem Film weniger Zeit zum Untertitellesen, selten gab es so vielschichtige
und elegante Bildkompositionen zu verdauen und zu bestaunen. Kurzum stimmt hier
einfach alles, und das Warten hat sich gelohnt: Diese DVD ist ein ebenso überfälliger
wie sorgfältig gestalteter Triumph der Filmkunst.
Daniel
Bickermann
Dieser
Text ist zuerst erschienen im:
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Letztes
Jahr in Marienbad
L'Année
dernière à Marienbad. F/I/D
1961. R:
Alain Resnais. B:
Alain Robbe-Grillet. K: Sacha Vierny. S: Jasmine Chasney, Henri Colpi. M:
Francis Seyrig. P: Argos Film, Cinétel u.a. D: Delphine Seyrig, Giorgio
Albertazzi, Sacha Pitoëff, Françoise Bertin, Luce Garcia-Ville u.a.
94
Min.
DVD
bei Arthaus seit 17.10.08
Sp:
Deutsch, Französisch (DD 1.0). Ut: Deutsch. Bf: 2.35:1 anamorph. Ex: Dokumentation
»Im Labyrinth von Marienbad«, umfangreiches Booklet.
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