zur startseite
zum archiv
zu den essays
Liverpool
Wasser
und Öl
Lisandro
Alonso lässt in "Liverpool" einen Mann Bilder von Innen- und
Außenräumen queren, in denen den Mann nichts hält.
Obgleich
die Einstellungen in "Liverpool" lang sind, möchte man über
den Film in kurzen Hauptsätzen schreiben. Alles hat hier mit wenigen Worten
großes Gewicht. Ein Mann verlässt ein Schiff. Er geht an Land im
Süden von Argentinien, Tierra del Fuego, Feuerland, die Antarktis ist nah.
Man sieht ihn vor Gletschern in einem stillgelegten Bus und denkt für einen
Moment an "Into
the Wild",
Sean Penns geradezu ekstatisches Meisterwerk. "Liverpool" aber ist
anders, ist ein denkbar unekstatischer Film. "Into the Wild" feiert
das Verlassen der Zivilisation als Aufbruch in ein anderes, das richtige Leben;
als einen Aufbruch, der nicht einmal durch den Tod widerlegt werden kann. "Liverpool"
feiert nichts.
"Into
the Wild" erzählt von einem Mann, der über die Welt hinauswill,
"Liverpool" von einem, der in ihr zu verschwinden scheint. Farrel,
der Mann, der an Land geht, wirkt beinah erloschen. Er hat ein Ziel, aber er
bewegt sich darauf zu, als wäre da nur ein Magnet, der ihn zieht, als wäre
kein Wille, der ihn zum Handelnden macht. (Der Südpol ist nah, vielleicht
liegt es daran.) Wenn er den Zielort erreicht haben wird, tut er nichts, um
sich an ihn zu binden und verlässt ihn wieder und verschwindet in aller
Langsamkeit aus dem Bild. Zum Raum, in dem er sich bewegt, gewinnt er nie ein
Verhältnis.
Der
Mann und der Raum: wie Wasser und Öl. Hier Farrel, zunächst in fast
jeder Einstellung zu sehen. Da der Raum, der ihn nie in sich aufnimmt. Innen
wie außen nicht, in geschlossenen Räumen wie im Freien, das Farrel
keine Freiheiten gibt, zu dem Farrel keine Bindung sucht: ein gegenseitiges
Abweisungsverhältnis. Der Mann und der Raum und das Bild. Die Kamera erst
stellt die Beziehungslosigkeit her. Sie bleibt auf Distanz und wenn sich der
Mann entfernt, dann bleibt sie stehen und tut nichts, ihm auf den Fersen zu
bleiben. Farrel quert das Bild wie er den Raum quert und wie er die Leben seiner
Mitmenschen quert. Er quert und quert und nichts hält ihn. Wie er gekommen
ist, so verschwindet er.
Man
lese zum Vergleich, was Gilles Deleuze über Michelangelo Antonioni schrieb:
"Antonionis Kunst hat sich unaufhörlich in zwei Richtungen entwickelt:
zunächst von einer beachtlichen Ausschöpfung der toten Zeit des Alltags;
sodann ... zu einer Behandlung von Grenzsituationen, die bis zu menschenleeren
Landschaften und entleerten Räumen vordringt, von denen man sagen kann,
sie hätten die Figuren und die Handlungen in sich absorbiert, um nur noch
eine geophysikalische Beschreibung, eine abstrakte Bestandsaufnahme übrigzubehalten."
Antonionis
Kunst ist der des Lisandro Alonso eng verwandt. Man kann sich überdies,
übers Grundsätzliche hinaus, an die Ozeantanker erinnern, die in "Die
rote Wüste"
wiederholt auftauchen. Jetzt ist einer in einem Alonso-Film gelandet und spuckt
einen Mann hinaus in die Alonso-Landschaft. Außerdem gibt es eine offensichtliche
Korrespondenz in der Persistenz der Farbe rot. Man achte auf alles, was rot
ist, in "Liverpool": kaum eine Einstellung Eis und Schnee zum Trotz
ohne Rot. Für Lisandro wie Antonioni gilt auch: Schwer ist das Gewicht
der Welt, aber "Gewicht der Welt" ist eine Metapher - man muss in
Alonsos Filmen sehr genau darauf achten, wie diese Metapher Moment für
Moment buchstäblich Bild wird.
Wo
bei Antonioni der Raum die Figur absorbiert, scheinen Figur und Raum einander
in "Liverpool" beinahe nicht zu berühren. Das Queren zieht Linien
und Striche in den Raum, aber es greift nicht in ihn ein, es hinterlässt
keine oder kaum Spuren. Auf sehr spezifische Weise ist das Handeln der Figur,
ist das Tun von Farrel, darum kein Handeln, sondern ein Beinahe-Stillstehen,
ein Sich-Treiben- und Sich-Anziehen und Sich-Abweisen-Lassen, und eben darum
ist der Raum kein Handlungsraum, sondern ein Zustand der Unverbundenheit: Wasser
und Öl. Der Raum setzt dem Verschwinden der Figur, nur konsequent, nicht
den mindesten Widerstand entgegen. Ebensowenig der Film. (In Vincent Gallos
ohnehin nicht unähnlichem "Brown
Bunny"
gibt es ein vergleichbares Verschwindebild.)
Etwas
Drittes ist, zwischen Raum und Figur, immer im Spiel: die Objekte. Die rote
(!) Tasche, die Farrel immer bei sich trägt. Eine rote (!) Terrine, in
der Analia - möglicherweise Farrels Tochter - die Speisen aus der Wirtschaft
nach Hause trägt. Und zuletzt ein Anhänger, ein Buchstabenspiel: LIVERPOOL,
ein Gegenstand, dem das Schlussbild gehört und der dem Film gar den Titel
gibt. Es wäre einfach zu sagen, dass in den Gegenständen und Objekten
Figur und Raum zuletzt doch zusammenfinden zur Bewegtbildhandlungsraumemulsion
des gewöhnlichen Spielfilms. Es ist aber nicht so. So wenig wie eine Mutter
hier ihren Sohn erkennt, so wenig wie ein Vater hier eine Beziehung zu seiner
Tochter herstellen kann, so wenig stellt sich im Dreieck aus Figur-Objekt-Raum
ein Weltverhältnis wieder her. Vom Vater wird nur und sehr buchstäblich
ein ganz und gar fremdes Objekt bleiben. Der Anhänger namens LIVERPOOL
ist handgreiflich und bedeutet alles und nichts.
Ekkehard
Knörer
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: www.perlentaucher.de
Liverpool
Argentinien
/ Frankreich / Niederlande / Deutschland / Spanien 2008 - Regie: Lisandro Alonso
- Darsteller: Juan Fernández, Giselle Irrazabal, Nieves Cabrera - Fassung:
O.m.e.U. - Länge: 84 min. - Start: 15.4.2010
zur startseite
zum archiv
zu den essays