zur startseite
zum archiv
Lornas
Schweigen
Brutaler
Schnitt
Die Brüder Dardenne verlassen für
ihren neuen Film "Lornas Schweigen" das Städtchen Seraing und
erzählen eine Kriminalgeschichte aus der Ökonomie der Gegenwart.
Lorna kommt aus Albanien nach Belgien,
heiratet, um den belgischen Pass zu bekommen, den drogensüchtigen Claudy,
nur um dann, wenn sie den Pass hat...
Nein, so kann man eine Kritik zu "Lornas
Schweigen" nicht beginnen. Denn erst einmal wissen wir all das nicht. Lorna
(Arta Dobroshi) ist zu Beginn schon in Belgien, alles was wir bemerken, ist
der Akzent im Französisch, das sie spricht. Wir sehen Lorna und Claudy
(Jérémie Renier) in einer Wohnung und wir werden aus beider Verhalten
nicht schlau. Sie schließt die Tür hinter sich, sie ist von der lauten
Musik bei ihm genervt, sie beschwert sich. Er scheint unterwürfig. Was
ist da los? Ein Ehekrach vielleicht? Am nächsten Morgen: Er möchte,
er insistiert, er bettelt, dass sie ihn einsperrt. Warum?
"Lornas Schweigen" beginnt mit
dem Blick in einen intimen Raum, in dem etwas nicht stimmt. Nach und nach erst,
mal gleitend, mal sehr ruckartig bewegt sich der Film heraus aus diesem Raum
und ermöglicht den Blick von außen. Dann wird klar: Hier ist keine
Intimität, vielmehr, hier dürfte keine sein. Der intime Binnenraum
ist seiner Konstruktion nach rein ökonomisch-funktional, keine Liebe, kein
Mitgefühl, nur Wahrung eines Scheins, der Profit bringt: Lorna braucht
den belgischen Pass. Claudy braucht das Geld. Beide bedienen sich des anderen,
um zu bekommen, was sie brauchen. Claudy ist für Lorna das Pfand, nicht
nur zum Leben in Belgien. Ihre Immigration ist arrangiert von Typen im Hintergrund,
die sie, als Belgierin dann, für viel Geld wiederverheiraten wollen an
einen Russen. Eine ausgeklügelte Ökonomie, die aus der Kalkulation
mit Standortvorteilen und dem Wohlstandsgefälle Profite zieht. Menschen
sind reduziert auf ihren Nutzen: die zunächst völlig wertlose Albanierin,
die, in eine Belgierin transformiert, eine ungeheure Wertsteigerung erfährt;
der drogensüchtige Claudy, dem seine Staatsbürgerschaft Zugang zu
dieser Ökonomie verschafft.
"Lornas Schweigen" ist ein humaner
Film, weil er glaubt, dass Mitgefühl nicht ausbleibt; dass, weniger sentimental
formuliert, Rechnungen, die mit Mitgefühl nicht rechnen, nicht aufgehen.
"Lornas Schweigen" ist ein humaner, aber kein naiver Film, weil er
zeigt, dass die, die die großen Rechnungen schreiben, mit allen Mitteln
passend machen, was nicht passt, dass das, was das Aufgehen der Rechnung stört,
aus den Rechnungen einfach rausgekürzt wird. "Lornas Schweigen"
ist kein naiver, aber auch kein zynischer Film, weil er die Amoral vorführt
als das, was sie ist, und auf dem Humanum des Mitgefühls insistiert. Weil
er der Figur, die ihrem Mitgefühl folgt, bis in den Irrsinn, der wiederherstellen
will, was nie war, treu bleibt und ihr einen, und sei es noch so schmalen, fragwürdigen
Ausweg lässt.
Das muss so vage formuliert werden, denn
der Film arbeitet mit den und gegen die Erwartungen
des Zuschauers. Er wechselt die Perspektiven, leitet in die Irre, stößt
vor den Kopf und einmal macht er einen verstörenden, brutalen Schnitt,
ein ganz scharfer Strich unter die Bilanz bis dahin. Die Dardennes, die mit
"Lornas Schweigen" erstmals die Kleinstadt Seraing, den Schauplatz
ihrer bisherigen Filme zugunsten Lüttichs verlassen haben, die erstmals
sich ganz im Ernst dem Genre-Kino nähern, ziehen durch ihren Erzählraum
unberechenbare Kraftlinien; es gibt einen krimiähnlichen Plot, der aber
nie dem Genre gehorcht, sondern die Sonde ist, die in die Realitäten gelegt
wird. Dieser Plot ist notwendig, weil sich nur so die komplexe Situation entfalten
lässt, und er ist in seinen filigran gearbeiteten Bewegungen sensibel genug,
um an vielen Stellen unerwartete Wendungen zu nehmen. Das Ende ist dann nur
konsequent. Weil der Film dem ökonomischen Kalkül den Kampf ansagt
- ohne seine Gewalt und seine Macht leugnen zu wollen und zu können - lässt
er zuletzt die eigene dramaturgische Ökonomie verrückt spielen und
alles so tröstlich und trostlos ausgehen wie ein mitten in der Erzählung
abgebrochenes Märchen.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen am 08.10.2008 in: www.perlentaucher.de
Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Le Silence de Lorna - Lornas
Schweigen
Belgien / Frankreich / Deutschland 2008 - Originaltitel: Le Silence de Lorna - Regie: Luc Dardenne, Jean-Pierre Dardenne - Darsteller: Arta Dobroshi, Jérémie Renier, Fabrizio Rongione, Alban Ukaj - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 105 min. - Start: 9.10.2008
zur startseite
zum archiv