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Lornas
Schweigen
Alle Pläne sind perfekt vernetzt,
die Deals müssen reibungslos ablaufen, die Zeitfenster sind eng und erlauben
kaum Flexibilität. Durch ihre von der Mafia arrangierte Ehe mit dem Junkie
Claudy hat die Albanerin Lorna die belgische Staatsbürgerschaft bekommen;
ihr Traum von einer eigenen Snack-Bar ist ein gutes Stück näher gerückt.
Doch Claudy ist bloß eine Zwischenstation, ein Medium, so wie auch Lorna
nur ein Medium ist. Ein Russe steht schon an, um sich durch eine Heirat mit
Lorna seinerseits die belgische Staatsbürgerschaft zu sichern. Neben Claudy
hat Lorna auch noch einen „richtigen“ Freund: Sokol. Der ist allerdings ständig
in Europa unterwegs. Macht er in Lüttich Station, gibt er Lorna, was er
zuletzt verdient hat, damit der Kredit für die Bar zügig von der Bank
gewährt wird. Die Zeit drängt also in jeder Hinsicht, weshalb es mehr
als ärgerlich ist, dass Claudy sich ausgerechnet jetzt entschließt,
wieder einen Entzug zu wagen. Sein Tod ist eine fixe Größe in den
Plänen der Mafia, eine Scheidung zeitlich nicht drin.
Lorna hat dieses Spiel bislang mitgemacht
und ihre Gefühle auf Eis gelegt. Wenn man ihr im Film zum ersten Mal begegnet,
folgt ihr Alltag der kalten Logik des Profits. Sie lebt mit Claudy in einer
kleinen Wohnung, die tagsüber, wenn Lorna in einer Wäscherei arbeitet,
auf „Ehe getrimmt“ wird, bevor sich abends routiniert die Wege wieder trennen.
Lorna hält Claudy auf Distanz, die Kommunikation ist auf ein Minimum beschränkt.
So könnte Lornas Perspektive immer aussehen; aus Sicht ihres Mafia-Mittelsmannes
Fabio ist Lorna funktional durchaus auf einer Ebene mit Claudy anzusetzen. Sie
soll funktionieren, adrett sein und ansonsten den Mund halten.
Doch Claudy – ein Häufchen Elend,
das verzweifelt um sein Leben, um seine Befreiung von der Sucht kämpft
und Hilfe braucht, um etwas wie Handlungsautonomie, Selbstbestimmung und Würde
überhaupt wieder in den Blick zu bekommen – rührt an etwas in Lorna.
Unvermittelt kommen Gefühle ins Spiel, eher Mitmenschlichkeit und Mitleid
als Zuneigung, die allerdings die Geschäfte stören. Lorna will die
Scheidung, um Claudy zu retten. Um das Scheidungsprozedere zu beschleunigen,
muss Claudy Lorna schlagen. Im Gegenzug will Lorna ihm nach dem Entzug helfen,
clean zu bleiben. Sogar der Russe willigt angeblich ein, bis nach der Scheidung
zu warten. Doch Claudy ist schwach, will rückfällig werden. Da schläft
Lorna mit ihm. Jetzt sind Lorna und Claudy tatsächlich das Paar, das zuvor
nur eine Inszenierung war. Die Gangster pochen mit Nachdruck auf die Geschäftsbeziehungen,
aber Lorna geht allen Widerständen zum Trotz ihren eigenen Weg. Sie bricht
ihr Schweigen, erkundet im Gespräch alternative Handlungsoptionen. Sie
streut so Sand ins Getriebe reibungslos verlaufender Tauschprozesse; sie wird
unbequem.
Der neue Film der Brüder Dardenne
(„Rosetta“, fd 34825, „L’Enfant“, fd 37333), in Cannes mit dem Preis
für das beste Drehbuch ausgezeichnet, zeigt eine prekäre Welt mitten
in Europa, die scheinbar allein auf dem Geldfluss basiert. Immer wieder wechseln
Geldscheine ihren Besitzer: Junkie und Dealer, Gangster und Gangster, Kunde
und Banker. Geld schafft Abhängigkeiten, erfüllt aber auch Träume.
Alles läuft wie geschmiert, doch dann ein „authentischer“ Blick im falschen
Moment – und die Solidarität, die Humanität meldet sich zurück!
Zur Humanität gehört auch eine Moral, und wenn diese Moral erst einmal
aktiviert ist, dann gerät eine wohlgeordnete, aber eben fundamental amoralische
Existenz schnell aus den Fugen. „Lornas Schweigen“ macht die Konsequenzen dieses
moralischen Erwachens an immer neuen, ganz kleinen Entscheidungen präsent.
Jeder Twist öffnet neue Handlungsräume, macht neue Entscheidungen
notwendig.
Dabei ist Lorna alles andere als eine
Heldin. Sie hält an ihrem Traum von der Snack-Bar fest, sie würde
auch den Russen heiraten, sie will Fabio nicht herausfordern, sie will nur „den
Junkie“, den sie jetzt beim Namen nennt, retten. Doch als sie versucht, sozial,
das heißt, in mehrere Richtungen gleichzeitig zu denken, um zwischen unterschiedlichen
Ansprüchen zu vermitteln, wird ihr unmissverständlich klar gemacht,
dass sie machtlos ist. Von ihrem Traum von einer eigenen Existenz bleiben ihr
gerade einmal 100 Euro, doch winkt deshalb keine Freiheit innerhalb der Gesellschaft.
Lorna, unglaublich präsent gespielt von der Entdeckung Arta Dobroshi, besitzt
die innere Kraft, sich eine Moral zu leisten, muss dafür aber die Gesellschaft
fliehen. Ob sie nun schwanger ist oder es sich nur einbildet, bleibt zweitrangig,
weil dieser Impuls ihr abweichendes Verhalten bestimmt. Selbstverständlich,
das zeigt dieser beeindruckend klar und aufs Essenzielle
reduzierte Film, ist das nicht; längst nicht mehr.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst
Zu diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere Texte
Le Silence de Lorna - Lornas
Schweigen
Belgien / Frankreich / Deutschland 2008 - Originaltitel: Le Silence de Lorna - Regie: Luc Dardenne, Jean-Pierre Dardenne - Darsteller: Arta Dobroshi, Jérémie Renier, Fabrizio Rongione, Alban Ukaj - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 105 min. - Start: 9.10.2008
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