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Die Vergessenen
Los
Olvidados
„Das wunderbarste (-oder entsetzlichste!)
im Phantastischen ist, dass das Phantastische nicht existiert, alles ist wirklich!”
(André Breton)
Luis Buñuel (1900 – 1983) war der
große Provokateur unter den Filmemachern, ebenso: Freudianer, Bilderstürmer,
Sardoniker, vergnügter Pessimist, frommer Anarchist und Atheist von Gottes
Gnaden. Bereits seine ersten Filme EIN
ANDALUSISCHER HUND (1928)
und DAS GOLDENE ZEITALTER (1930)
waren mit ihren enigmatisch–(alp)traumhaften Bilder und aggressiven Tabuverletzungen
subversive Anschläge auf die Sehgewohnheiten der Kinozuschauer und verstören
heute noch elementar. Seine letzten Filme markieren die Schnittstelle zwischen
Realismus und Surrealismus, sie zeigen uns Szenarien menschlicher Perversionen
als deren Ikone uns Catherine Deneuve als BELLE
DE JOUR in Erinnerung geblieben ist. Heute wird der Spanier aus Aragonien
und spätere Wahl-Mexikaner nicht mehr "nur" als Avantgardefilmer
wahrgenommen, er hat sich mit Filmen, wie DER
DISKRETE CHARME DER BOURGEOISIE oder den anderen schon genannten Titeln
längst in den Kanons der Filmgeschichte etabliert. Zwischen seinen surrealen
Sturm-und-Drang-Anfängen aus der ausgehenden Stummfilmzeit und seinem eleganten
Spätwerk (1966 – 1977) liegen allerdings die achtzehn Jahre und 21 Filme
seiner kaum rezipierten “mexikanischen Phase.” So war es bis jetzt: anlässlich
des 25. Todestages von Luis Buñuel widmete ihm die "Berlinale"
eine Retrospektive und würdigt einen leidenschaftlichen Filmemacher, der
uns ein einzigartiges Oeuvre hinterlassen hat.
Bei allem Rätselhaften, allen scheinbaren
Widersprüchen - wie etwa der Faszination, die katholischer
Ritus und katholische Ikonographie stets auf den erklärten Atheisten ausübten
- gab es jedoch eine Konstante in der Biographie und Filmographie Buñuels.
Und dies war seine strikte Ablehnung aller Fanatismen, zu denen er sowohl den
Marxismus als auch den Franquismus zählte, sowie sein Kampf gegen Unwissenheit
und Ignoranz, wozu auch sein Wille gehörte, verdrängte Missstände
schonungslos aufzudecken. Aus diesem Impetus entand LAS HURDES - LAND OHNE BROT, ein vierzigminütiger sozialer Dokumentarfilm
aus dem Jahr 1933 über ein Dorf in einem der ärmlichsten Landstriche
Spaniens in der Nähe von Salamanca. In kritischer Weise werden endemische
Armut und kärgliche Existenzbedingungen aufgezeigt - die Tragödie
der einfachen Leute. Das ungeschminkte Porträt der grausamen Lebensbedingungen
der Bevölkerung von Las Hurdes war sogar der linken, republikanischen Regierung
Spaniens ein Dorn im Auge.
Siebzehn Jahre später: Die Franquisten
haben den Bürgerkrieg gewonnen, Buñuel ist schon vor vielen Jahren
über Paris, dann über die USA nach Mexiko exiliert, als Regisseur
ist er nahezu vergessen, nach LAS HURDES ist er erst bei zwei Filmen als Regisseur
geführt worden, bei GRAN CASINO (1947) und LA GRAN CALAVERA (1949), zwei
Filmen mit eher leichten Sujets, dann bietet sich ihm die Möglichkeit,
erneut einen Film mit sozialer Thematik zu drehen. In 21 Tagen entsteht LOS
OLVIDADOS.
LOS OLVIDADOS spielt in einem namenlosen
Außenbezirk von Mexiko–Stadt: auf dieser Schattenseite der wuchernden
Metropole, leben die Verlierer der mexikanischen Wirtschaftswunderjahre unter
erniedrigenden Bedingungen, die fast zwangsläufig in die Kriminalität
führen; Jugendliche, um die sich hier niemand kümmert, treiben sich
auf den Straßen herum, sie stehlen um zu überleben - und lernen unter
Führung des charismatischen Jaibo die reine Lust an der reinen Destruktion
kennen. Deren Opfer sind die Schwachen und Wehrlosen, wie der blinde Bettler
Carmelo. Zu Jaibos Gegenspieler wird ungewollt der junge Pedro. Nach einem von
Jaibo begangenen und von Pedro beobachteten Mord sind die beiden durch ein unsichtbares
Band verbunden. Pedro will Jaibo nicht verraten, er möchte nur der Atmosphäre
der Gewalt und Kälte entkommen, doch all seine Versuche macht der eifersüchtige
und misstrauische Jaibo gewaltsam zu nichte.
„Wir wären gut, anstatt so roh, doch
die Verhältnisse sind nicht so” - und so steht die Moral erst einmal hinten
an. Gemäß dieser Lehre aus der “Dreigroschenoper” zeigt uns der Film
Verbitterung und Schlechtigkeit an jeder Ecke. Eindringlich macht uns Buñuel
darauf aufmerksam, dass wir nicht in der besten aller Welten leben. Sicherlich:
Menschlichkeit gibt es auch, sie ist jedoch mehr Ausnahme denn Regel. Dennoch
haben wir am Ende Mitleid mit den schuldlos schuldigen Protagonisten, deren
Schicksal uns menschlich einfühlsam geschildert wird. Allen diesen “Vergessenen,”
den Opfern der sozialen Mißstände einer brutalen, scheinheiligen
und ungerechten modernen Gesellschaft, deren Schicksal universell ist, wie uns
der Prolog des Films mitteilt, setzt Luis Buñuel ein visuelles Denkmal.
In LOS OLVIDADOS nimmt Buñuel Einflüsse
der dominierenden mexikanischen Gattung, des Melodramas, und des italienischen
Neorealismus auf - mit seinem Kameramann hatte er zuvor die Elendsviertel von
Mexiko-Stadt erkundet, um aus der Nähe zu erfahren, wie deren Bewohner
leben. Aber weder ist LOS OLVIDADOS mit seinen gebrochenen Charakteren, seinen
irrealen Bildern und Traumsequenzen ein neorealistischer Film, noch zeigt er
den für das mexikanische Kino typischen Folklorismus und sentimentalismo.
Es handelt sich vielmehr
um eine konsequente Weiterentwicklung von LAS HURDES.
Mit seinem Themenkanon und seiner Bildsprache, die wie tableaux vivants
von Goya und Posada wirken und uns de Sade oder Quevedo und den Roman der Pikareske evozieren, ist LOS OLVIDADOS ein ganz
und gar “buñuelesker” Film, der bei seiner Premiere am 9.11.1950 die
Wahrnehmung des Publikums am Sehnerv trifft, wie der Schnitt durchs Auge im
“Andalusischen Hund”. Es sind aber nicht beklemmende Traumbilder, auf die das
Premierenpublikum, darunter Politiker und Künstler wie Diego Rivieras,
empört, beinahe gewalttätig reagiert, es ist der indiskrete Schrecken
der Wirklichkeit, Buñuels Tabubruch, die unbequeme Wahrheit über
das hässliche Antlitz der Metropole Mexiko–Stadts so schonungslos darzustellen.
Das Land befindet sich mitten im sogenannten
mexikanischen Wirtschaftswunder, Präsident Alemán wünscht sich,
dass alle Mexikaner einen Cadillac, eine Zigarre und ein Ticket für den
Stierkampf besäßen; dass aber nur wenige vom Aufschwung profitieren,
eine gerechte, geordnete, sozial ausgeglichene Gesellschaft nur Illusion ist,
wird im öffentlichen Diskurs verdrängt. “Die Lüge ist jung und
hübsch, die Wahrheit alt und hässlich”, schrieb Manuel Gutiérrez
Nájera. Buñuel demaskiert das hübsche Gesicht Mexiko-Stadts,
zum Vorschein kommt eine hässliche Fratze. Ein “falsches, negatives und
dreckiges Bild” sei dies, halten ihm seine Kritiker entgegen und fordern von
der Regierung Buñuels Ausweisung aus Mexiko.
Dennoch wird LOS OLVIDADOS wenige Monate
später, im Mai 1951 in Cannes mit der Goldene Palme für die beste
Regieleistung ausgezeichnet, im selben Jahr wird der Film in zehn (von achtzehn
zu vergebenden Kategorien mit dem Filmpreis "Ariel" der Academia Mexicana
de Artes y Ciencias Cinematográficas ausgezeichnet. Dieser Erfolg, der
vor allem der Fürsprache des späteren Nobelpreisträgers Octavio
Paz zu verdanken ist, besänftigt die Gemüter. LOS OLVIDADOS beeinflusst
das lateinamerikanische Kino nachhaltig, in den 1960ern wird er zum Grundstein
für die argentinische Filmbewegung des “Dritten Kinos” und das brasilianische
“Cine Nôvo”. Auch in Mexiko findet der Film späte Anerkennung und
wird im Jahr 2003 in den Kanon des UNESCO- Weltkulturerbes aufgenommen.
Aber am wichtigsten ist: LOS OLVIDADOS
schiebt Luis Buñuels ins Stocken geratene Karriere wieder an und gibt
ihm die Möglichkeit in die produktivste Phase seines Schaffens einzutreten.
Wir, die Zuschauer verdanken damit LOS OLVIDADOS, 27 weitere, “buñueleske”
Filme, die (Traum-)Reisen in das Unbewusste, teilweise auch in die geheimnisvollen
Abgründe der menschliche Seele gleichkommen.
Sven Pötting
Dieser Artikel
ist zuerst erschienen in der Kölner Zeitschrift Matices am 19.02.2008
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Die Vergessenen (1950)
Los Olvidados
Mexiko 1950, Regie: Luis
Buñuel, Buch: Luis Buñuel, Luis Alcoriza, Max
Aub (Mitarbeit), Pedro de Urdimalas (Mitarbeit), Kamera: Gabriel Figueroa, Musik:
Rodolfo Halffter und Gustavo Pittaluga (verwendete Themen), Produzent: Oscar
Dancigers. Mit: Alfonso Mejia, Roberto Cobo, Miguel Inclán,
Stella Inda, Alma Delia Fuentes, Héctor López Portillo.
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