zur startseite
zum archiv
zu den essays
The Love Police
In Toronto findet ein G20-Treffen statt. Klar, dass der britische
Aktivist Charlie Veitch da hinfliegt. Warum? „Um möglichst viele Robocops
zu umarmen und meine Wahrheit zu erzählen. Klar, dass der britische
Aktivist Charlie Veitch da hinfliegt. Warum? „Um möglichst viele Robocops
zu umarmen und meine Wahrheit zu erzählen.“ Seit Veitch 2009 seinen Job
als Investmentbanker verlor, hat er erfolgreich auf „Anarchist“ und „Agitator“
umgesattelt und kämpft jetzt für sein Recht auf freie Meinungsäußerung
im öffentlichen Raum. Er äußert seine Ansichten friedlich und
auf höchst unterschiedlichem Niveau, aber zumeist mit einem Megaphon und
an Orten, die manche als nicht-öffentlich ansehen und deshalb Sicherheitsdienste
oder gar die Polizei alarmieren. Worauf Veitch, der stets eine Kamera dabei
hat, nur gewartet hat, denn eigentlich geht es ihm darum, Reaktionen zu provozieren
und die Provozierten dabei zu filmen – womit er erneut Reaktionen provoziert.
Mit dieser Strategie fordert er die Autorität der Exekutive heraus,
die hier mehr als einmal von der Situation derart überfordert scheint,
dass man Veitch gratulieren muss, Augenzeugen dabei zu haben. Die auf YouTube
veröffentlichten Filme dieser unter dem Label „The Love Police“ fungierenden
Interaktionen machten Veitch international so bekannt, dass er seine Aktionen
und Reisen mittlerweile via Crowdfunding finanziert.
Veitchs Aktionen leben vom Paradoxon. Er und seine Mitstreiter, wie
der Performer Danny Shine, verblüffen die Passanten mit Slogans wie „Everything
is o.k.“, sie fordern in Einkaufszentren lautstark zum Konsum von in Billiglohnländern
produzierten Waren auf, sie decouvrieren vor Kosmetikgeschäften die falschen,
mit dem Kauf von Kosmetik verbundenen Erwartungen der Käuferinnen, geben
vor, Polizisten einfach mal umarmen zu wollen oder erzählen vom Völkermord
im Irak oder Afghanistan. Kurzum: „The Love Police“ agiert als Störenfried
im öffentlichen Raum, streut etwas Sand und Widersprüche in den üblichen
Lauf der Dinge und genießt den Adrenalinschub, wenn sich daraus etwas
Unvorhergesehenes entwickelt.
Veitch, dem ein gewisses Charisma nicht abzusprechen ist, agiert erstaunlich
angstfrei und schafft es, seine gewaltfreien Provokationen durch einen ordentlichen
Schuss sarkastischen Humors gleichzeitig abzumildern und zuzuspitzen. Nachdem
er in Toronto von Polizisten einen Platzverweis erhalten hat und ein wenig mit
ihnen gescherzt hat, verabschiedet er sich beim Gehen mit den Worten: „See you
tomorrow at the riots!“ Kurz darauf wird Veitch festgenommen, weil er sich nicht
ausweisen will, und 20 Stunden festgehalten, davon vier Stunden ohne etwas zu
trinken zu bekommen. Veitch erinnert das „natürlich“ an die Haftbedingungen
in Guantanamo. Aber eigentlich ist er recht zufrieden mit den Erfahrungen, die
er in Toronto machen konnte: Inhaftiert zu sein, sei fürchterlich. Auf
den Straßen Torontos kommt es auch zur famosesten Tautologie des Films:
martialisch uniformierte Polizisten marschieren auf, Regenbogenflaggen mit Peace-Zeichen
werden geschwenkt, Polizisten filmen die Demonstranten, Demonstranten filmen
die Polizisten, Fernsehteams filmen das ganze Szenario – und The Love Police
filmt das ganze Szenario wiederum inklusive der Fernsehteams, während Veitch
mit dem Megaphon die Uniformierten verspottet und die Friedlichkeit der Demonstranten
betont.
Hier zeigt sich auch ein wesentlicher Unterschied zu den frühen
Aktionen von The Love Police, die eine Situation kreierten und diese Situation
dann subversiv mit Energie aufluden, während Veitch in Toronto eine ohnehin
bestehende Protestsituation nur noch parasitär kommentieren muss. Und,
aber das wird nur am Rande erwähnt, seine Medienprominenz genießt.
So bleibt eigentlich nur eine Frage: Warum gibt es den Kinofilm „The Love Police“,
wenn sich Veitchs Prominenz aus der Netz-Öffentlichkeit resultiert? Der
Regisseur Harold Baer, der gemeinsam mit Veitch auch das Drehbuch schrieb und
den Film produzierte, scheint sich für solche Fragen nicht zu interessieren.
Trotz größter Nähe zu seinem Protagonisten wahrt er dessen Geheimnis
und bietet ihm stattdessen eine selbstgefällige Plattform für sein
etwas anderes Event-Hopping. Dessen spektakulärster Coup bestand darin,
dass er vor der Hochzeit des britischen Thronfolgers verhaftet wurde, weil man
davon ausging, dass er eine Aktion aushecke – eine der vermutenden Straftat
vorauseilende Verhaftung, keine Science Fiction mehr.
Doch halt! Warum wurde aus dem Investmentbanker überhaupt ein sich selbst
als Anarchist bezeichnender Aktivist? Was bedeutet in diesem Zusammenhang Anarchismus?
Warum trennten sich Charlie Veitch und Danny Shine nach kurzer Zeit, und was
hat diese Trennung mit der wachsenden Militanz von Veitch zu tun? Was bedeutet
in diesem Zusammenhang Militanz? Lauter ungeklärte, weil nicht gestellte
Fragen in einem (Selbst-)Porträt eines Polit-Aktivisten, der sich manchmal
auch als Clown oder Freak bezeichnet und dessen bevorzugte Währung Aufmerksamkeit,
YouTube-Clicks und Verhaftungen zu sein scheinen. Selbst, wenn es dafür
genügt, sich auf den Marktplatz zu stellen und „Terrorism, Al Qaida, Terror,
Private Property, Al Qaida, Abdullah Mohammad Al Qaida“ zu rufen.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst 24/2013
The Love Police
Deutschland 2013 - Regie: Harold Baer - Buch: Charles Veitch, Harold Baer
- Produktion: Frank Terjung - Kamera: Torbjörn Karwang, Charles Veitch
- Schnitt: Lana Kloodt - Musik: Stereo MCs - Länge:100 (24 B./sec.)/96
(25 B./sec.) Minuten - (Teils O.m.d.U.) - Verleih: Real Fiction - Kinostart:
28.11.2013
zur startseite
zum archiv
zu den essays