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Der
Mann mit der Kamera
Der
zärtliche Blick der Maschine
Dziga
Vertovs Erfindung des modernen Films
Was
ist Kino? Vielleicht dies: Ein Ganzes (nennen wir es “die Wirklichkeit”) wird
geteilt und wieder zusammengesetzt zu etwas Neuem (nennen wir es “den Film”),
wobei nicht nur verschiedene Menschen, sondern auch verschiedene Maschinen zum
Einsatz kommen. Die wichtigsten sind die Kamera, der Montagetisch und der Projektor.
Genau
davon handelt Dziga Vertovs Film „Der Mann mit der Kamera“, entstanden 1929
in der Sowjetunion. Wie aus der Wirklichkeit Film wird. Wie aus einer alten
Ordnung eine neue wird. Und was das eine mit dem anderen zu tun hat. Er macht
dabei auch gleich einen Vorschlag zur Methode. Nennen wir sie “dialektisch”.
Er verknüpft Bilder aus verschiedenen Städten, Moskau, Odessa und
Kiew, und macht daraus das Bild der russischen Stadt, die sich verwandelt. Er
verknüpft Bilder von Menschen und Maschinen und macht daraus das Bild einer
neuen Einheit der Produktivität, in der sich weder der Mensch der Maschine
noch die Maschine dem Menschen unterwerfen muss. Er verknüpft Bilder und
Bilder von der Herstellung dieser Bilder zu einem programmatischen Poem: So
wie zwischen der Wirklichkeit und dem Film die Kamera arbeitet, so arbeitet
zwischen der alten und der neuen Ordnung die Wahrnehmung. Manchmal ist das atemberaubend.
Er zeigt das galoppierende Pferd vor einer Kutsche, zugleich die waghalsige
Arbeit des Kameramannes, der auf einem Auto parallel fährt, und wechselt
dann zu einer Reihung von Standbildern in einen anderen Rhythmus.
Während
im westlichen Kino der Zeit die Kamera organisch verschwinden soll, ist für
Vertov gerade ihr Maschinelles die Lösung: “Ich bin das mechanische Auge.
Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich sie zu sehen imstande
bin. Von heute an und in alle Zukunft befreie ich mich von der menschlichen
Unbeweglichkeit.” Und dann zerlegt, überwindet, bewahrt, erhöht der
Mann mit der Kamera die Maschinen, die Menschen, die Welt und sich selbst darin.
Es ist der Augenblick, da die Maschine nicht als Ausdruck, sondern als Überwindung
der menschlichen Entfremdung wirkt. Das Kamera-Auge ist die erste gelungene
Beziehung von Mensch und Maschine. Eine kommunistische Maschine. Dann kam alles
ganz anders. In der Wirklichkeit wie im Kino.
Georg
Seeßlen
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: DIE ZEIT, 41/2006
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Der
Mann mit der Kamera
(Chelovek
s kinoapparatom, 1929)
Regie:
Dziga Vertov
Premiere:
1929
Drehbuch:
Dziga Vertov
Land:
UdSSR
Länge:
68 min
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