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Mary & Max - oder: Schrumpfen Schafe, wenn es regnet?
Interkontinentales Bündnis
Es könnte sich auch um gestandene Charaktere eines
Mike Leigh-Films handeln: Mary und Max – zwei Außenseiter, verbunden durch
eine skurrile Brieffreundschaft, die ihrem tristen Alltag ein Minimum an Glanz
verschafft. Mary Daisy Dinkle, eine achtjährige
Schülerin aus einem Melbourner Vorort, hat die Adresse von Max Jerry Horowitz,
einem übergewichtigen, atheistischen Juden aus New York, zufällig
im Telefonbuch entdeckt und möchte eigentlich nur von ihm wissen, ob in
Amerika die Babys in Biergläsern geboren werden, so wie sie es von ihrer
Mutter gehört hat. Ansonsten ist Marys Leben die diesseitige Hölle:
ihre Mutter ist kettenrauchende Alkoholikerin, der Vater widmet sich in seiner
Freizeit der Präparation von Vögeln, sie besitzt keine Freunde, wird
in der Schule sowohl von Mitschülern als auch Lehrern verhöhnt, ist
unglücklich in den Nachbarsjungen verliebt und im Großen und Ganzen
so hilflos sonderbar wie Heather Matarazzo in Todd Solondz‘ „Welcome to the Dollhouse“.
Ihre gesamte Umgebung scheint dem mentalen Verfall preisgegeben,
und da hat sie in Max ein gleichwertiges, erwachsenes Pendant gefunden: Der
44jährige leidet am Asperger Syndrom, welches
dem Autismusspektrum zugerechnet wird, und laboriert zudem an zahlreichen
Zwangsneurosen, d.h. alles, was die gewohnte Struktur verlässt, bedeutet
ihm enormen Stress, und das kann der ablebende Goldfisch, der Tod seiner fast
blinden Nachbarin oder eine problematische Frage aus Marys Briefen sein. Doch
was die Zwei eint, ist die eingeschränkte Sicht auf die grausige Realität
um sie herum und wie sie es durch ihren letztlich Jahrzehnte währenden
Kontakt schaffen, ihr kurze, wenn auch meist recht aberwitzige Momente des Glücks
abzutrotzen. Das leistet bereits die kontrastierende Bildebene: Das monotone,
vorstädtische Braun Melbournes und das deprimierende Grau des urbanen Raums
werden vornehmlich durch die Accessoires, die die beiden sich per Post zukommen
lassen, akzentuiert. Trotzdem hat die Gegenwart noch ein paar grausige Trümpfe
in der Hand, zu denen nicht nur der Tod von Marys Eltern und Max‘ fast einjähriger
Psychatrieaufenthalt zählen…
Nun handelt es sich indes nicht um eine Arbeit Mike Leighs, sondern um Adam Elliots Langfilmdebüt, der bereits mit seinem Frühwerk
„Harvey Krumpet“, das einer Blaupause zu „Mary & Max“ gleicht, einen
Oscar als bester animierter Kurzfilm gewann. Wären die Figuren nicht aus
Plastilin, würde sich die Kamera nicht mit solcher Eleganz durch die Knetmassewelten
bewegen, der Film und sein abgründiges Sujet ließen sich kaum goutieren.
So aber entfaltet sich, trotz aller Tristesse, das immer warmherzige, teils
groteske, teils schwarzhumorige Portrait zweier vereinsamter Charaktere, dessen
Witz wie Anteilnahme sich aus den gleichen Bedingungen speisen, nämlich
ihrem fragmentierten Blick auf die Welt um sie herum. Das Sammelsurium aus Süchtigen,
Depressiven, Agoraphobikern und Egozentrikern wird vor allem in einen physischen
Humor übersetzt, nicht in bösartige Pointen. Bei handfesten Interaktionen
hingegen bleibt das Lachen oft im Halse stecken, weil den Figuren nur ambivalent
begegnet werden kann – sie bemerken einfach zu selten, wie viel Tragik sie ausgesetzt
sind. Die Arglosigkeit in ihrem Handeln ist also Segen und Fluch, für die
Figuren und für den Zuschauer ebenso. Dieser Eindruck erhöht sich
noch dank des voice over-Erzählers, dessen allwissender, nonchalanter und gleichfalls beruhigender
Tonfall selbst den düstersten Situationen eine durchaus heitere Note zuführt.
Und so verbinden sich in der Erzählung konsequent zwei disparate Elemente:
der harte Realismus eines Mike Leigh mit seiner Vorliebe für zwangsgestrandete
Outsider, die notgedrungen an einer asozialen Welt scheitern müssen und
die plastilingeronnene Stop Motion-Anarchie der Aardman Company
– eine wirklich betörende Symbiose.
Sven Jachmann
Dieser Text ist zuerst erschienen in der: www.filmgazette.de
Mary & Max - oder: Schrumpfen Schafe, wenn es
regnet?
OT: Mary & Max
Australien 2009 - 92 min.
Regie: Adam Elliot - Drehbuch: Adam Elliot - Produktion:
Melanie Coombs - Kamera: Gerald Thompson - Schnitt: Bill Murphy - Musik:
Dale Cornelius - Verleih: MFA - Altersfreigabe: ab 12 Jahre - Besetzung: (Stimmen)
Helmut Krauss, Gundi Eberhard, Sebastian Schulz, Tina Engel, Valentina Bonalana, Boris
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