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Meek's Cutoff
Der Western ist ein Landschaftsfilmgenre; er erzählt von der Eroberung und Zivilisierung eines halben Kontinents. Die Form des Genres erschließt sich sozusagen aus seinem Inhalt. Die Landschaft des Westerns ist keine Seelenlandschaft, in der sich die psychologischen Verwerfungen seiner Figuren abzeichnen. Sie ist eine manifeste Größe, eine physische Herausforderung, an der sich das Individuum und die entstehende Zivilgesellschaft auch moralisch messen lassen muss. Im amerikanischen Kino steht der Westerner immer im Verhältnis zum Land, über das er sich und sein Wirken definiert. Dieses Verhältnis beschreibt die epische Dimension der Western-Erzählung. Kein Wunder also, dass der Western noch immer als das archetypische amerikanische Filmgenre gilt, auch wenn sich heute keiner mehr ernsthaft für ihn zu interessieren scheint.
Kelly Reichardts vierter Film „Meek’s Cutoff“ erfüllt alle formalen Vorgaben eines Westerns, und dennoch setzt er die Regeln des Genres großzügig außer Kraft. Historisch fällt der Film in die Zeit der großen Siedler-Trecks über den Oregon Trail Mitte des 19. Jahrhunderts, als die „Amerikanisierung“ des Westens politisch vorangetrieben wurde. Tausende von Pionieren sollten von der Ostküste in den Nordwesten der Vereinigten Staaten übersiedelt werden, der bis dahin vor allem von kanadischen Briten bewohnt war. „Meek’s Cutoff“ erzählt eine ebenfalls historisch verbürgte Nebenepisode dieser Trecks. Der Trapper Stephen Meek kam zu zweifelhaftem regionalem Ruhm, weil er einen Treck mit Siedlern über eine vermeintliche Abkürzung vom Weg abbrachte und in die Wildnis führte. Als der Film einsetzt, sind Reichardts Figuren bereits an der Landschaft des Wilden Westens gescheitert. Die Wasservorräte gehen zur Neige, das Vertrauen der drei Familien in ihren Anführer ist erschüttert, und das ersehnte Ziel erscheint ferner denn je. „Meek’s Cutoff“ ist zum Stehen gekommen, bevor er überhaupt begonnen hat.
Schon Kelly Reichardts letzter Film „Wendy und Lucy“ handelte von einem Stillstand. Eine junge Frau erleidet auf ihrer Fahrt quer durch die USA eine Autopanne und strandet ohne finanzielle Mittel in einem namenlosen Kaff an der Westküste. Der Film schilderte die Einsamkeit eines Menschen angesichts seines sozialen Abstiegs, und Reichardt inszenierte diese existenzielle Krise mit langen, nahezu unbeweglichen Einstellungen, die ihre Hauptdarstellerin Michelle Williams meist alleine im Bild zurückließen. In „Meek’s Cutoff“ arbeitet sie mit ähnlichen Mitteln, nur verstärkt die Weitläufigkeit des amerikanischen Westens das Gefühl von Hilflosigkeit noch. Reichardt filmt die Menschen bevorzugt aus der Distanz; der Wind, der über die Gesteinswüste Oregons fegt, lässt ihre wenigen Worte unhörbar verstreichen. Jeder Handgriff zeugt von den Mühen eines arbeitsreichen Lebens; die Arbeitsroutinen (das Wechseln der Wagenräder, das Abseilen der Waggons einen Abhang hinunter, das Sammeln von Brennholz) erzeugen eine zermürbende Monotonie. Doch Reichardts Bilder besitzen eine geradezu dokumentarische Klarheit. Und sie korrigieren das Verhältnis der Menschen zur mythischen Landschaft, wie es der amerikanische Western bis heute fortschreibt. Hier der Held, da der Horizont, den es zu bewältigen gilt. Den Horizont zeigt Reichardt eigentlich nie, sie hat den Western auch formal gestutzt: Das quadratischere 4:3-Format nimmt der Landschaft ihre epische Dimension und wirkt der Verklärung entgegen. „Meek’s Cutoff“ ist ein realistischer Western, der durch die Strapazen der Reise selbst in einen Zustand innerer Erschöpfung versinkt.
Reichardt beschreibt eine Frühform der amerikanischen
Gesellschaft auf der Suche nach einem Gemeinschaftssinn. Stephen Meek ist ein
Fremdkörper in dieser Gemeinschaft. Seine Sozialisation ist noch der Wilde
Westen mit seinen archaischen Riten und seiner Freiheit - der Freiheit zu töten.
Als Figur bleibt Meek undurchsichtig. Auch die Siedler fragen sich bis zum Ende,
ob er lediglich ein Aufschneider oder ein durch und durch schlechter Mensch
ist. Ihr Dilemma besteht darin, dass sie in Meek den Einzigen sehen, der sie
aus ihrer misslichen Lage führen könnte - obwohl sie ihr Vertrauen
in ihn längst verloren haben.
In „Meek’s Cutoff“ prallen zwei Kulturen aufeinander.
Die Siedler vertrauen auf ihren Gott, der sie in das gelobte Land hinter dem
Horizont führen soll. Stattdessen gab er ihnen Stephen Meek. Das ist der
Konfliktpunkt, an dem Reichardts Film auch aktuelle Fragen anschneidet. Wie
kann eine Gesellschaft im Moment größter existenzieller Bedrohung
für ihre moralischen Standpunkte eintreten? In „Meek’s Cutoff“ ist es eine
Frau, die sich über das Recht des Stärkeren erhebt, als die Siedler
einen Native American aufgreifen, den Meek augenblicklich als tödlichen
Feind und Bedrohung der Gemeinschaft ausmacht.
Emily (Michelle Williams in ihrer zweiten Hauptrolle
für Reichardt), die Frau des Siedlers Soloman, ist lange Zeit stille Beobachterin
und schließlich die einzige, die es wagt, sich Meek entgegenzustellen.
Je mehr ihm die Situation entgleitet und die Panik wächst (sind die Markierungen,
die der Eingeborene hinterlässt, Orientierungspunkte oder geheime Zeichen
an seine Stammesmitglieder für einen Hinterhalt?), desto bestimmter nimmt
Emily die Rolle der moralischen Autorität des Zuges an. In einem vorweggenommenen
Showdown, der aus einer action-losen Konfrontation besteht, gelingt es ihr,
wenn auch unter Waffengewalt, einen Gemeinsinn in der Gruppe herzustellen. Die
Absichten des Eingeborenen, dessen Sprache sie nicht verstehen, bleiben genauso
opak wie die Meeks. Aber die Gruppe hat eine wichtige Lektion der Zivilgesellschaft
gelernt, der sich auch Stephen Meek zu fügen hat.
Reichardt liefert mit „Meek’s Cutoff“ die weibliche Sichtweise
auf ein stark männlich konnotiertes Genre. Das Verhältnis der Frauen
untereinander, ihre ruhige Solidarität, ist das Fundament einer neuen (amerikanischen)
Gesellschaftsform. Die Frauen laufen meist in einer Gruppe, etwas abseits der
Wagen, die von den Ehemännern gelenkt werden. Reichardt beschreibt ihre
Emanzipation als einen langsamen Prozess; auch Williams entpuppt sich erst allmählich
als zentrale Figur des Films. Die Bezüge auf die amerikanische Politik
(der selbstgefällige, inkompetente Anführer, der seine Leute ins Verderben
leitet) sind offensichtlich, aber genau diese Stärke hat das Genrekino
schon immer ausgemacht: in gradlinigen Geschichten soziale und politische Konflikte
zu verhandeln. „Meek’s Cutoff“ endet mit einer langen Schwarzblende in die Ferne,
in der der Native American verschwindet. Da irgendwo ruht auch Hoffnung auf
eine zivilisiertere Gesellschaft. Reichardts Film erzählt nur von einem
kleinen Teilerfolg. Die Entwicklung ist noch immer nicht abgeschlossen.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen in: fluter online
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Meek's
Cutoff
USA 2010 - Regie:
Kelly Reichardt - Darsteller:
Michelle Williams, Bruce Greenwood, Will Patton, Zoe Kazan, Paul Dano, Shirley
Henderson, Neal Huff, Tommy Nelson, Rod Rondeaux - FSK: ab 6 - Fassung:
O.m.d.U. - Länge: 102 min. - Start: 10.11.2011
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