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Mein
Nachbar Totoro
Das
geliebte Ungeheuer
Als Vollblutmisanthrop sollte man diesen
Film eigentlich hassen. Zumindest scheint er alles aufzuweisen, was Filme hassenswert
macht: zwei halbwüchsige Mädchen als ständig fröhliche Hauptfiguren,
die die Welt entdecken, und – Gott bewahre – ein plüschweiches Knuddelmonster.
Warum also bringt mich Hayao Miyazaki (schon wieder!) dazu, mich in diese Welt,
diese Menschen und ja, vor allem in dieses gigantische, grinsende Pelzknäuel
zu verlieben? Immer wieder scheint sich der japanische Meisterregisseur in Situationen
und Sujets zu verirren, aus denen es längst keinen originellen filmischen
Weg mehr heraus gibt – und immer wieder tanzt er auf einem unvorstellbar schmalen
Grat zwischen Romantik und Realität einfach davon. Es bleibt uns nichts
anderes übrig als staunend zuzusehen.
Miyazakis größte Tugend ist
seit je her ein unbändiger Detailreichtum, der fröhlich das Hohe und
das Niedere vermengt: Die Credits laufen zu einem schamlosen Wohlfühlsong
des auch sonst äußerst gutgelaunten Joe Hisaishi, aber zu sehen ist
erstmal allerlei kriechendes Getier: Fledermäuse, Spinnen, Eidechsen, Kröten
und Würmer. Es ist ein Frühlingsfilm (die Namen der beiden Protagonistinnen
sind multilinguale Anspielungen auf den Monat Mai), aber die Naturromantik Miyazakis
geht hier (wie auch in seinen anderen Filmen) weit über ein steriles Schönheitsstaunen
hinaus: Vor den impressionistischen Hintergrundmalereien von Wäldern und
Wolken tummeln sich rußige Staubgeister, das morsche, überwucherte
Gebälk des japanischen Landhauses knarrt äußerst gespenstisch,
und der Wald, um den es hier vor allem geht, besteht nicht nur aus majestätischen
Bäumen, sondern auch aus Moos, Pilzen und Erde. So vermeidet Miyazaki den
Zuckerglasurkitsch der einschlägigen Disney-Filme und verwurzelt seine
teils berauschende Darstellung des japanischen Landlebens fest in der Realität.
Das gleiche Prinzip gilt für seine
Figuren, die so lebendig und zugleich so idealistisch wirken. Der Vater, der
sein Verständnis für die Fantasiegespinste der Töchter keineswegs
heuchelt, sondern wirklich empfindet, ist da ein gutes Beispiel: In der japanischen
Provinz, die noch von tiefer Spiritualität geprägt ist, wo an Weggabelungen
Schreine und Statuen zu Ehren der umgebenden Geister errichtet werden, erscheint
es gar nicht mehr so abseitig, an ein riesiges, superflauschiges, eichelmampfendes
Waldmonster mit gelangweilt-verständnisloser Bill-Murray-Mimik zu glauben.
Die geheimnisvolle Atmosphäre, die hier, wie so oft bei Miyazaki, vor allem
aus der meisterhaften Nutzung von Wind auf der Ton- und Animationsebene besteht,
bestärkt Zuschauer und Protagonisten noch in ihrem Geisterglauben. Alle
Erwachsenen scheinen sich zudem gerne an ihre eigene Kindheit zu erinnern –
das führt zu einer wunderbaren Akzeptanz noch der haarsträubendsten
Eskapaden und des wildesten Geschreis der zwei Mädchen. Auch die Hilflosigkeit,
mit welcher der schüchterne Nachbarsjunge diesen beiden Energiebündeln
gegenübersteht, ist typisch für Miyazaki. Nicht, dass die männlichen
Figuren in seinen Filmen nichtsnutzige Trottel wären, sie sind durchaus
patent und gewieft, aber immer auch ein klein wenig überfordert, wenn es
um den Umgang mit starken Frauen geht…
Es hilft natürlich auch, dass Miyazaki
niemals auf die Idee käme, die Schwierigkeiten des realen Lebens aus seinen
Filmen auszublenden: Die junge Mutter ist seit Jahren schwer krank und verbringt
die gesamte Zeit des Films im Hospital, die daraus resultierende Unsicherheit
nagt ganz gewaltig an den Kindern und dem Ehemann – und eine einfache Lösung
dieses Problems wird hier nicht vorgegaukelt. Überhaupt verweigert sich
Mein Nachbar Totoro den simplen Erklärungen. Sehr raffiniert
baut Miyazaki erst die Kumpelfreundschaft zwischen der jüngeren Tochter
und dem Monster auf – und der Zuschauer riecht sofort Lunte: Die Kleine vermisst
ihre große Schwester, die dauernd Schule hat und sich dann auch noch ein
bißchen in den Nachbarsjungen verknallt, also erfindet sie sich anscheinend
einen großen besten Freund, richtig? Schließlich finden wir sogar
noch heraus, dass Totoro aus ihrem Kinderbuch entsprungen ist und auf einer
falschen Aussprache des japanischen Worts für Troll (tororu) beruht. Alles
klar, meint man. Doch dann trifft die ältere
Schwester das Waldmonster an der Bushaltestelle, tauscht Regenschirme aus und
lässt sich sogar ein Stück weit von seinem Monsterbus mitnehmen. Miyazaki
stellt solche einfachen (und »erwachsenen«) Psychologisierungen
bloß und schmiert uns alle an: Natürlich gibt es Totoro wirklich.
All diese und tausend mehr Gedanken stauen
sich in Miyazakis vielleicht liebevollstem Film, dessen unvergesslicher Titelheld
seitdem zum Wappentier des gesamten Studio Ghibli geworden ist. Wer will schon
Zeichentrickfilme mit der Maus sehen, wenn er stattdessen ein schielendes, grölendes
Pelzmonster kriegen kann?
Daniel
Bickermann
Dieser Text ist zuerst erschienen im: schnitt
Mein
Nachbar Totoro
Tonari no Totoro. J 1988. R,B: Hayao Miyazaki. S: Takeshi Seyama. M: Joe Hisaishi. P: Studio Ghibli u.a.
86 Min.
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