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Memelland
Aufgehobene
Zeit
In seinem Film "Memelland"
sucht der große Dokumentarist Volker Koepp das einstige östlichste
Ende Ostpreußens auf.
Das erste Bild von Volker Koepps neuem
Film "Memelland" zeigt einen Weg vor einer Baumreihe, dahinter Wasser.
Von links kommt eine Frau ins Bild, nicht sehr groß im von der Landschaft
bestimmten Tableau. Die Kamera, die zuvor ruhig war, setzt sich in Bewegung,
folgt der Frau auf dem Weg nach rechts, beschleunigt und schwenkt nach rechts,
an der Frau vorbei , die nach links aus dem Rahmen verschwindet, die Kamera
schwenkt weiter, nun über menschenleere Landschaft, man sieht eine Weggabelung
und rechter Hand dann ein Haus, auf das der Blick der Kamera, nun zur Ruhe kommend,
fällt.
Mensch, in der Landschaft verortet: Das
ist das Prinzip der dokumentarischen Filme des Volker Koepp. Sie entwerfen,
mit scheinbar einfachen Mitteln, Tableaus, in die der Raum und die Zeit und
die Menschen in Zeit und Raum eingetragen sind, ohne je ganz zum Zentrum zu
werden. Wenngleich Koepp die Städte nicht völlig meidet, ist doch
die Weite der Landschaft und ihre longue duree das, was ihn in erster Linie
fasziniert. Nicht weil er ein Natur- und Idyllenmaler wäre, im Gegenteil.
Nicht das Überzeitliche will er darstellen, sondern Geschichtlichkeit.
Und Mal für Mal beweisen seine Filme aus westöstlichen Grenzgebieten,
dass Geschichte dort im weitesten Rahmen erfassbar ist, wo die Zeit beinahe
stehengeblieben scheint. (Vielleicht sollte man grundsätzlicher sagen:
Wo die Zeit in seltsame Aggreggatzustände gerät. Wo sie nicht recht
vorankommt oder wo die Zukunft sich nicht einmal am Horizont zeigen will. Wo
alles halb in der Vergangenheit, halb in der Zukunft steckt. Wo die Landschaft
die Zeit in sich aufnimmt, wo der Mensch sich immer schon verbunden mit der
Landschaftszeit zeigt.)
Memelland ist der deutsche Name für
ein Gebiet am äußersten östlichen Rand des ehemaligen Ostpreußen. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel der gut
140 km lange Streifen Land an der Ostseeküste an Litauen, Hitler annektierte
es 1939 und 1944 wurde es zum Bestandteil der Litauischen SSR. Inzwischen ist
das Gebiet Teil des seit dem Zerfall der Sowjetunion unabhängigen Staates
Litauen, mit einer scharfen Grenze im Westen zum zu Russland gehörigen
Kaliningrader Bezirk. Trotz aller Fluchten und Vertreibungen und Umsiedlungen
sprechen manche der heute hier lebenden Alten noch immer zwei Sprachen, Litauisch
und Deutsch. So etwa die drei Schwestern Edith, Erna und Berta, Bäuerinnen,
die Koepp bei der Arbeit zeigt, aber auch auf dem Friedhof, die er erzählen
lässt aus ihrem Leben. Ihres ist das Haus, auf dem die Kamera am Anfang
zu ruhen kommt, sie sind die Figuren im Film, deren Geschichte am weitesten
zurückweist in die Vergangenheit dieses Landstrichs.
Zum stillen Pathos dieser Filme gehört
es, dass sie sich, wie manche alten Landschaftsgemälde, leise öffnen
auf allegorische Lesarten. Eine sehr junge Frau im Wald, die erzählt, dass
sie vor allem eins will vom Leben: das Glück, ist beinahe ganz Zukunft.
Ein Mann, sich mittlerem Alter nähernd, war Gründer einer ersten großen
litauischen Werbeagentur. Nun aber ist er ausgestiegen, hat im Memelland aus
alten, vom Kaliningrader Gebiet über die Grenze geschafften Ziegeln ein
glänzend am Wasser stehendes Hotel namens Sturmu bauen lassen: In ihm,
seiner Lebensgeschichte, dem neuen Hotel aus altem Material, seiner Liebe zur
Hafflandschaft, verkörpert sich etwas wie die Vermittlung von damals und
heute.
Auch eine Historikerin tritt auf, Leiterin
eines Museums vor Ort, Tochter einer Frau, die aus dem Memelland stammt und
nach Sibirien deportiert war. Sie kehrte in den fünfziger Jahren wieder
zurück, ihre Tochter, die in der Hauptstadt Geschichte studiert hatte,
ist im Memelland aufgewachsen. Ganz langsam fährt das Auto auf einem Landweg
in das Dorf ihrer Kindheit. Die Frau erzählt, von damals, von heute, unmerklich
fast schieben sich damals und heute in dieser Fahrt ineinander. So wird Geschichte
darstellbar in Koepps Filmen: als paradoxe Erfahrung, im Erzählen von Erlebtem
und in der zugleich sichtbar werdenden Nichtwiederholbarkeit alles Gewesenen.
Und stets werden diese Material einsammelnden dokumentarischen Kapitel eingebettet
in die Aufnahmen von Land und Wasser und Wolken und Luft von Koepps Kameramann
Thomas Plenert, einem der großen Landschaftsfilmer des Gegenwartskinos.
Wie Zeit und Vergangenheit in die Gegenwart
eingelagert sind, darum geht es recht eigentlich. Und deshalb kommen immer auch
Stimmen aus der Vergangenheit selbst zu Wort. Als alte, andere Namen von Städten,
als Stimmen von Dichtern - und in diesem Fall sogar dadurch, dass Koepp selbst
inzwischen zum Träger einer Jahrzente schon währenden Erfahrung mit
den Gebieten des einstigen Ostpreußen ist. In den frühen siebziger
Jahren, ganz zu Beginn seiner Laufbahn als DEFA-Dokumentarist, war er bereits
einmal hier, auf den Spuren des großen Dichters Johannes Bobrowski. Die
Bilder von damals sind in kurzen Ausschnitten in den Film von heute geschnitten.
Einen Fischer hat Koepp einst porträtiert, an den sich, er ist längst
gestorben, manche der für "Memelland" Befragten erinnern. Koepp
lauscht immer in mindestens zwei Richtungen: das eine Ohr offen zur Gegenwart,
an das andere hält er die Vergangenheit wie eine Muschel. Seine Filme vermitteln
das Rauschen und sind doch zugleich der Gegenwart zugewandt.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen
am 19.08.2009 in: www.perlentaucher.de
Memelland
Deutschland
2008 - Regie: Volker Koepp – Mitwirkende: Viktorija, Edith, Erna, Berta, Ceslovas,
Asta - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 88 min. - Start: 27.8.2009
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