zur startseite
zum archiv
zu den essays
Das merkwürdige Kätzchen
Im Metronom des Lebens
Wer einsteigt, erlebt ein kleines Kinowunder: Ramon Zürchers
Debütfilm "Das merkwürdige Kätzchen" erzählt eine
Familiengeschichte, ohne eine Geschichte zu erzählen.
Es ist ein Experiment wert: Wer die ersten fünfzehn Minuten von
Ramon Zürchers Regiedebüt „Das merkwürdige Kätzchen“ die
Augen schließt und sich auf die sorgfältig ausgearbeitete Tonspur
konzentriert, mag etwas besser verstehen, mit welch einfachen Mitteln sich im
Kino eine soziale Wirklichkeit ausprägen lässt. Ohne dass biografische
Erfahrungen eine gesellschaftliche Problemzone abstecken müssten oder ein
kulturelles Milieu erst durch die Authentizitätsfloskeln Lokalkolorit und dokumentarische Genauigkeit eine Legitimation erfährt. Zürcher demonstriert mit „Das
merkwürdige Kätzchen“ auf eindrucksvolle Weise, dass auch Geräusche
eine eigene Welt beschreiben können.
Die Geschichten, die der vertraute Klangkosmos einer typischen Familie
erzählt, entfernen sich von den Bildern und nähern sich ihnen wieder
an, begründen aber immer ein eigenes Spannungsfeld. Alle Geräusche
stehen in unmittelbarem Zusammenhang miteinander, so idiosynkratisch sie sich
auch zueinander verhalten mögen. Das schrille Kreischen der Tochter Clara
etwa würgt die latent genervte Mutter mit dem energischen Summen der Kaffeemühle
ab. Auf diese Weise entwirft Zürcher mit einfachen Gesten und konkreten
Klängen (die sich mit geschlossenen Augen nicht immer zweifelsfrei einer
Quelle zuordnen lassen) eine komplexe Welt aus Sinneseindrücken. Wo sich
die Alltagsfragmente widerspenstig gegeneinander stemmen, blitzt in dem mit
musikalischem Hintersinn komponierten Kammerspiel „Das merkwürdige Kätzchen“
so etwas wie Wahrhaftigkeit auf.
Auf akustischer Ebene geschieht schon in der ersten Viertelstunde
eine ganze Menge, wenn auch die Handlung von Zürchers Film die Bezeichnung
"Geschichte" nur bedingt verdient. Denn dramatisch viel passiert in
den etwas mehr als siebzig Minuten eigentlich nicht. Die Bedeutung, mit denen
manch szenische Details aufgeladen sind, zielt mitunter absichtsvoll – aber
auch durchaus willkürlich – ins Leere.
Mikrokosmos Wohnküche
Eine Familie kommt am Wochenende in einer Berliner Wohnung zusammen, von der
man im Folgenden nicht viel mehr als die Küche und den Flur zu sehen bekommt.
Der Sohn Simon und die Tochter Karin sind eigens zum Familientreffen angereist,
später stoßen der Schwager (vermutlich der Bruder der Mutter) mit
seinem Sohn und die Oma hinzu, die in der stets wiederkehrenden Bemerkung "Oma
schläft" eine eher auratische Präsenz entfaltet.
So findet sich ein Familienmitglied nach dem anderen in der gemütlichen
Wohnküche ein. Mit allem, was außerhalb dieser Räumlichkeiten
geschieht, kommt der Film nur mittelbar in Berührung. Die Außenwelt
ist lediglich in den Gesprächen gegenwärtig, die in teilweise absurde
Monologe abdriften, oder durch den Ball des Nachbarjungen, der einmal durch
das Küchenfenster hineinfliegt.
Umso mehr sucht Zürcher nach versprengten Einsichten in ein ganz
normales Familienleben und findet sie in den Figurenkonstellationen, die wie
selbstverständlich auch die Tiere des Haushalts – unter anderem das titelgebende
Kätzchen – einbeziehen und den Alltagsgeräuschen, die wie Musique
concrète die einzelnen Szenen einfassen. Immer ist etwas zu tun, immer
passiert irgendwo etwas Unbedeutendes. Oder verbirgt sich hinter der kreisenden
Flasche, die sich im Hintergrund endlos um ihren Schwerpunkt dreht, vielleicht
doch eine höhere Macht? Eines dieser viel beschworenen alltäglichen
Wunder? (Noch dazu produziert die Flasche mit ihren Kreiselbewegungen eine Art
zeremoniellen Singsang.)
„Das merkwürdige Kätzchen“ ist ein Glücksfall für
das deutsche Kino. Schon seine bescheidene Erfolgsgeschichte bedeutet für
einen Film, der dem Zuschauer ein so hohes Maß an Geduld und Aufmerksamkeit
für die Mikro-Sensationen an Gefühlen, Beobachtungen und Klängen
abverlangt, ein eigentlich unmögliches Happy End. Seit er sich im Forum
der letztjährigen Berlinale zu einem Publikumsgeheimtipp entwickelte, hat
„Das merkwürdige Kätzchen“ eine viel beachtete Tour über die
internationalen Filmfestivals absolviert. Das ist mehr als beachtlich für
einen Abschlussfilm an der Filmhochschule, wo den Studenten gewöhnlich
jede eigene Handschrift ausgetrieben wird, weil sie am Ende wahrscheinlich doch
bloß den deutschen Fernsehmarkt bedienen müssen.
Zürcher umgeht elegant und leichtfüßig alle erzählerischen
Konventionen. Selbst der naheliegende Bezug auf die Berliner Schule führt
hier nicht weiter, weil in seinen Dialogen oftmals noch ein selbstzweckloser
Hang zum Unsinn mitschwingt, etwa in großartigen Sätzen wie "Wenn
die Wunde so riecht, wie sie aussieht, würde ich den Geruch mögen".
Und weil die Familie hier noch keine Ideologie verkörpert, der gegenüber
sich die Protagonisten abgrenzen müssen.
Zürcher taktet seinen Film bloß auf einen Lebensrhythmus ein. Wie ein Metronom. So beschreibt Clara einmal in einem langen Selbstgespräch, das unbewusst auch das Geheimnis von Zürchers Film verrät, ihr eigenes Schritttempo. In ihrer Erinnerung spaziert sie einen Kiesweg entlang und schmeißt, vertieft in den gleichmäßigen Rhythmus ihres Gangs, Stücke einer Orangenschale hinter sich auf den Boden. Sie landen alle mit der weißen Seite nach oben auf dem Weg. Einfach auf den inneren Rhythmus hören: So entstehen kleine Wunder. Kinowunder.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen in: DIE ZEIT ONLINE
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Das merkwürdige Kätzchen
Deutschland 2012 - 72 Minuten - Kinostart(D): 02.01.2014 - FSK: ohne Altersbeschränkung - Regie: Ramon Zürcher - Drehbuch: Ramon Zürcher - Produktion: Silvan Zürcher, Johanna Bergel - Kamera: Alexander Haßkerl - Schnitt: Ramon Zürcher - Darsteller: Anjorka Strechel, Jenny Schily, Matthias Dittmer, Armin Marewski, Lea Draeger, Luk Pfaff
DVD bei absolut Medien (www.absolutmedien.de )
DVD5, codefree, 73 Min. PAL, 16:9, Dolby Surround, deutsche Sprachfassung, englische Untertitel
ISBN: 978-3-8488-7010-3
EAN: 978-3-8488-7010-3
Best. Nr.: 7010
Preis: € 14,90
zur startseite
zum archiv
zu den essays