zur startseite
zum archiv
zu den essays
Mia
Madre
Bis zum poetischen Ende
Manchmal kommt man aus dem Kino und ist einfach beglückt. Einerseits, weil man etwas erfahren, etwas gesehen, an etwas teilgenommen hat, was einen reicher macht. Andererseits weil man Zeuge war, wie etwas gelungen ist. Wie eine ästhetische und moralische Rechnung unglaublicherweise aufging. Wie aus lauter disparaten und widersprüchlichen Dingen etwas ungemein stimmiges Ganzes wird. Es geht um Politik, um Liebe und um Poesie. Immer tut es das. Und darum, wie widersprüchlich sich das zueinander verhält.
Nanni Morettis Film »Mia madre« kann man auf zweierlei Arten ansehen. Die erste hat mit dem Gesamtwerk dieses totalen Filmemachers zu tun, der Regisseur, Schauspieler, Produzent und Autor in einer Person ist. Da gibt es eine Linie, angefangen mit seinem allerersten, noch auf Super-8 gedrehten Spielfilm »Ich bin ein Autarkist« aus dem Jahr 1976 und seiner Figur des Michele Apicella, der in etlichen Filmen und in verschiedenen Stadien eines sehr umständlichen Erwachsenwerdens gezeigt wurde. Dieser schlaksige, mal vergrübelte, dann wieder cholerische Typ, der alle Dramen und Grotesken vom Post-68er-Rebellen bis zum leidenden Kleinbürger durchmacht. Dann die beiden wundervollen Skizzenfilme, »Liebes Tagebuch« und »Aprile«, in denen Nanni Moretti sein Konzept des »Filmens in erster Person Einzahl« zur Perfektion brachte. Vespafahren als urbane Poesie und der Jahrhundertsatz, dem Fernseher entgegengeschleudert; »Sag’ was Linkes! Sag’ was Linkes!«. Und schließlich ein Film wie »Das Zimmer meines Sohnes«, der so nüchtern wie einfühlsam von einer Familie erzählt, der das Schlimmstmögliche widerfährt: der Tod eines Kindes. Es geht um Politik, um Liebe und um Poesie. Und es geht um den Tod, auch in »Mia madre«.
Und diesen Film kann man genauso gut ansehen, ohne zu wissen wie viel
Selbstreferenz, autobiographische Details, Elemente einer fortlaufenden Chronik
darin stecken. Es ist eine ganz einfache, existenzielle und berührende
Situation, in die uns der Film mit dem ersten Bild hineinzieht: Streikende Arbeiter.
Nein. Es sind die Aufnahmen eines Films über streikende Arbeiter. Die Regisseurin
ist nicht ganz zufrieden. Sie versucht der Hauptdarstellerin etwas zu sagen,
die Anwesenheit des Schauspielers in seiner Rolle betreffend, etwas von Brecht.
Oder ist es doch von Nanni Moretti? Ob man sich verständlich gemacht hat,
bleibt ohnehin offen.
Margherita, die Regisseurin (gespielt von der grandiosen Margherita
Buy, die in den letzten Filmen von Nanni Moretti immer wichtiger wurde und endlich
das Zentrum eines Filmes von ihm bildet) hat es nicht leicht. Die Dreharbeiten
werden durch die Ankunft des, sagen wir mal etwas exzentrischen amerikanischen
Stars (John Turturro, der nie die Grenze zur bloßen Karikatur überschreitet)
eher erschwert. Zweifel plagen die Filmemacherin, ob sie einen politischen oder
nicht doch einen persönlichen Film machen sollte; die Journalisten nerven
mit ihren Fragen. Und auch das Privatleben steckt voller Tücken. Gerade
hat sich Margherita von ihrem Freund, einem Schauspieler, getrennt, die Beziehung
zur Tochter gestaltet sich anstrengend, und dann wird auch noch die Mutter ins
Krankenhaus eingeliefert. Eine würdige alte Dame, die es nicht gewohnt
ist, dass man sie entmündigt. Die Mutter wird sterben, das ist gewiss.
Margherita und ihr Bruder Giovanni (Nanni Moretti,der schlaksige Melancholiker)
wechseln sich am Krankenbett ab. Dann holt man die Mutter für ihre letzten
Tage nach Hause. Und bei alledem muss der Film zu Ende gebracht werden, auch
wenn man sich zwischenrein fragen mag: Wozu eigentlich?
Der Film »Mia madre« entsteht sozusagen in Margheritas
Kopf, das Wirkliche, das Gefilmte, das Geträumte und das Erinnerte ergeben
erst zusammen das Leben einer Person. Manchmal weiß man beim Zuschauen
nicht genau, in welcher Ebene des Wirklichen man sich gerade befindet. Sie sind
alle gleich wichtig. Sie werden von der Liebe, der Politik und der Kunst zusammengehalten.
Und dann eben auch vom Tod.
Ganz nebenbei ist es eine Lektion in Filmemachen. Mit Margherita können
wir erkennen, wie etwas nicht funktioniert, am komischsten in der Szene, wo
mit dem amerikanischen Star eine Szene in einem fahrenden Auto gedreht
wird: Wenn er fahren soll, kann er nicht spielen, und wenn er spielen soll,
dann kann er nicht fahren. So viel zu Film und Wirklichkeit. Und das führt
zu dem Hinweis, dass »Mia madre« eben auch eine Komödie ist.
Neben einem realistischen Drama, einer poetischen Dekonstruktion, einem Traumstück,
einer magischen Autobiographie und … ach, eben ein Moretti-Film. Einer der besten,
um genau zu sein.
Man ist ganz nahe an einem Menschen, den das Leben zu überfordern
droht und der doch kämpft, nicht nur um die Erfüllung seiner Pflichten,
sondern auch um die eigene, nun eben, Autarkie. Vielleicht trägt Margherita
die ganze Last des untergehenden, linksliberalen, humanistischen und kunstproduzierenden
europäischen Kleinbürgertums auf ihren Schultern, wer weiß.
Giovanni dagegen ist erschöpft, er hat seinen Arbeitgeber den Job gekündigt.
Er mag nicht mehr. Dennoch sind die beiden, Bruder und Schwester, aber auch
vielleicht nur zwei Seiten einer Person. Und die wiederum ein Traum ihrer Mutter.
Denn der Film heißt nicht umsonst »Mia madre«. Wir
sehen eben nicht einem Menschen (Giulia Lazzarini, die mehr Theater und klassisches
Fernsehspiel gemacht hat als Kino) beim Sterben zu, sondern einem, der bis zu
seinem letzten Tag lebt. Diese Frau war nicht nur Lehrerin von Beruf, sie war
es offenbar von ganzem Herzen und war es auch für ihre Kinder und ist es
bis zu ihrem Tod für die Enkeltochter. Deshalb gehört ihr auch die
Schlussszene, eine der poetischsten Film-Ausgänge die ich kenne.
Filme wie dieser geben einem den Glauben an das Kino zurück.
Georg Seeßlen
Dieser Text ist zuerst erschienen in: www.strandgut.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Und zu Nanni Moretti hat G. Seeßlen auch dieses kleine Porträt geschrieben
Mia Madre
Italien 2015 - 106 min. - Regie: Nanni Moretti - Drehbuch: Nanni Moretti, Valia
Santella, Gaia Manzini, Chiara Valerio, Francesco Piccolo - Produktion: Nanni
Moretti, Domenico Procacci - Kamera: Arnaldo Catinari - Schnitt: Clelio Benevento
- Verleih: Koch Media - FSK: ab 6 Jahren - Besetzung: Margherita Buy, John Turturro,
Giulia Lazzarini, Nanni Moretti, Beatrice Mancini, Stefano Abbati, Enrico Ianniello,
Anna Bellato, Toni Laudadio, Lorenzo Gioielli, Pietro Ragusa, Tatiana Lepore,
Monica Samassa - Kinostart (D): 19.11.2015
zur startseite
zum archiv
zu den essays