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Die Moskauer Prozesse
Der Schweizer Theater- und Filmemacher Milo
Rau hat im Moskauer Sacharow-Zentrum vor laufender Kamera drei Schauprozesse
nachstellen lassen, die davon erzählen, mit welcher Heftigkeit in Russland
seit gut einem Jahrzehnt ein Kulturkampf zwischen Kirche und Staat auf der einen
Seite und Kunst und Liberalismus auf der anderen tobt. 2003 wurde am gleichen
Ort die religionskritische Ausstellung „Achtung, Religion“ zerstört, drei
Jahre später die Ausstellung „Verbotene Kunst“. Von der Justiz angeklagt
wurden jedoch nicht die orthodoxen Hooligans, sondern die Kuratoren der Ausstellung
sowie der Direktor des Sacharow-Zentrums. In diese Reihe der Auseinandersetzungen
um die Freiheit der Kunst gehört auch die Aktion von Pussy Riot am 21.
Februar 2012 in der Christ-Erlöser-Kirche, die sich gegen die Allianz von
orthodoxer Kirche und dem autoritären Regime Putins richtete.
Allerlei Fragen stehen im Raum, als die Performance der „Moskauer
Prozesse“ beginnt: „Was ist und was darf die moderne Kunst?“, „Was bedeutet
‚das Sakrale‘ für die gegenwärtige russische Gesellschaft?“, „Wie
schützt sich der religiös empfindende Mensch gegen die Zumutungen
eines westlich-dekadenten Liberalfaschismus?“, „Wie politisch wirkt ein Tabubruch?“
oder „Wollen die Künstler nur auf sich aufmerksam machen oder wollen sie
die Gläubigen beleidigen?“ Was sich in dieser Auflistung etwas spielerischer
und theoretischer liest, als es im Film und im Sacharow-Zentrum tatsächlich
vonstatten geht. Es ist die große Leistung Milo Raus, die „echten“ Akteure
der drei Prozesse zur Mitwirkung an der Performance bewegt zu haben. So trifft
die zu einer Bewährungsstrafe verurteilte Pussy-Riot-Aktivistin Katja Samuzewitsch
auf Wladimir Sergejew, den Vorsitzenden der „Kampfsport“-Vereinigung orthodoxer
Bürger. Den Chefankläger mimt Maxim Schewtschenko, ein Star-Moderator
des Regierungsfernsehens, die Verteidigung übernimmt wie im echten Leben
die Anwältin Anna Stavitskaya.
Im Saal herrscht eine mehr als angespannte Atmosphäre voller
latenter Gewaltbereitschaft. Mit der im Westen geschätzten Option einer
Subversion durch Ironie ist den Stimmen der Orthodoxie nicht beizukommen. So
bewegt sich der Tonfall der Anklage immer am Rande der Charge, allerdings mit
dem Unterschied, dass nicht gespielt wird. Die Mächtigen fühlen sich
durch die Ohnmächtigen bedroht und sind bereit, sich zu wehren. Das Ganze
wirkt wie eine forcierte Version der „Political Correctness“-Debatte, nur mit
dem Dolch im Gewand. Zwar wähnt sich die Performance unter dem Schutz der
internationalen Pressevertreter, doch am dritten Tag der Performance wird der
geschützte Raum plötzlich durch Vertreter der Einwanderungsbehörde
und eine Handvoll Kosaken „aufgebrochen“. Interessanterweise agieren die Teilnehmer
der Performance gegen die Zumutungen der Störenfriede, doch der „Burgfriede“
ist nach ein paar Minuten schon wieder vergessen.
So zeichnet der Film bis hin zum symbolischen Freispruch der Künstler
ein zerrissenes Land, in dem die Positionen der Moderne ohnmächtig einer
politisch undurchsichtige Ziele verfolgenden Reaktion zur Rettung des „wahren“
Russlands gegenüber steht. Wer verletzt hier warum wessen Gefühle?
„Wer ist Angreifer, wer Verteidiger?“, fragen Film und Filmemacher.
Irgendwann steht die Zahl 1937 im Raum. Erbost verlässt einer der sieben
Schöffen seinen Platz, nachdem er nachdrücklich darauf aufmerksam
gemacht hat, dass die ganze Prozess-Performance letztlich doch nur dazu diene,
Hass zu schüren: sie führe doch bloß vor Augen, dass „das russische
Volk diese gottlosen Kleinkriminellen“ von Pussy Riot unterstütze. Er habe
in einem Minderheitenvotum gegen den Freispruch der Künstlerinnen gestimmt,
erregt sich der Mann, und erinnert dann unverhohlen drohend an die stalinistischen
Säuberungsprozesse der 1930er-Jahre. Was um so mehr erschreckt, nachdem
man gerade 80 Minuten Film gesehen hat, die ein vergleichbares Koordinatensystem
von Toleranz und Macht-Exekution etabliert haben. Der Filmemacher Milo Rau wurde
mittlerweile übrigens mit einem Einreiseverbot für Russland belegt.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: filmdienst 6/2014
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Die Moskauer Prozesse
Deutschland 2013 - 86 min. - Regie: Milo Rau - Drehbuch: Milo Rau - Produktion:
Arne Birkenstock - Kamera: Markus Tomsche - Schnitt: Lena Rem - Verleih: Real
Fiction - Kinostart (D): 20.03.2014
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