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MR 73
Eisregen:
Olivier Marchals „MR 73“
Völliges Schwarz, pechdunkel wie die Nacht. Eine
Frage aus der Finsternis: Ob er getrunken habe? Eine raue Männerstimme
verneint. Dann: eine übernahe Großaufnahme, von den Augenbrauen bis
zur Mundpartie, ganz im Stil des jungen Samuel Fullers und Sergio Leones: Daniel
Auteuils zerfurchtes Gesicht im Viertelprofil, in Schwarzweiß, die getönte
Sonnenbrille verdeckt die Augen. Worüber er denn sprechen wolle, fragt
die Ärztin im Umschnitt. Unvermittelt fragt er, ob sie an Gott glaube.
Sie bejaht, stellt die Frage zurück. Er glaube, entgegnet er, dass Gott
ein Hurensohn sei. Und: „Eines Tages werde ich ihn töten.“ Ein Schnitt
katapultiert den kaputten, alten Mann in der Zeit vor; es könnte auch in
die Vergangenheit sein, das wissen wir hier noch nicht. Mit glasigen Augen sitzt
er in einem öffentlichen Bus, starrt trübe vor sich hin, offenbar
betrunken. Dann kramt er umständlich eine zerknautsche Kippe hervor und
zündet sie an. Dazu erklingt Leonard Cohen: „Avalanche“ (1970). Bald darauf
wird er den Bus mit vorgehaltener Waffe kidnappen.
So beginnt Olivier Marchals neuer Film policier. Und eine avalanche, eine Eislawine, ist der Film tatsächlich
geworden. Marchals an den jüngeren Stilisten des Kinos, an Jean-Pierre
Melville, Sergio Leone und Michael Mann geschulter Stil ist noch kälter
geworden, durchgängig fröstelt es einem, so grausam ist diese Welt,
in der alle vollständig sich selbst und der Gesellschaft entfremdet sind.
Hier prügeln sich die Polizisten noch an den Tatorten um die Kompetenzen
und selbst in der Leichenhalle entsteht eine Schlägerei ums Beweismaterial.
Auteuil spielt Kommissar Schneider, einen Marseiller Polizisten, der nach dem
Tod seiner Tochter und der Verkrüppelung seiner Frau an der Krankheit zum Tode leidet, oder wie es bei Cohen heißt:
„Well I stepped into an avalanche / It covered up my soul”.
Die Episode mit dem Bus wird schnell von den Vorgesetzten
vertuscht – vielleicht verstehen sie den Schmerz des Mannes, vielleicht ist
es schon so sehr zur Routine geworden, Fehlleistungen zu kaschieren, Korruption
zu verdecken, Beweise verschwinden zu lassen. Wir werden das jedenfalls noch
einige Male in diesem Film sehen. Das ist Teil der Genreebene des Films; Paranoia
und Narzissmus gehören zum Polizeifilm wie Pferde in den Western. Und besonders
der französische Polizeifilm war oft eine Meditation über Entfremdung
und über die Suche nach Erlösung. Im Film policier und seinen Noir-Varianten lebt der Existenzialismus
fort; die Hölle, das sind hier die anderen. Und in „MR 73“ haben wahrlich
fast alle Menschen die Hoffnung verloren, und Marchal in sie. Das erinnert ein
wenig an Melvilles „Le Cercle Rouge“ („Vier im roten Kreis“, 1970), an den Vorgesetzten,
der dort erklärt, es gäbe keine Unschuldigen: Alle sind schuldig,
ausnahmslos. Schneider jedenfalls benötigt dringend Erlösung; die
Selbstzerstörung des Protagonisten durch Alkohol wurde im Polizeifilm wohl
nur in Abel Ferraras „Bad Lieutenant“ (1992) ähnlich radikal betrieben. Mit fettigen
Haaren, immer noch besoffen, die Hosen vollgepisst, wird Schneider in der Arrestzelle
geweckt und vor die internen Ermittler gestellt. Nachdem er gegangen ist, meint
der Kollege, er sei eine Zeitbombe. Die Kollegin ergänzt, das allerdings
seien sie alle. Das ist doppelt wahr: Einmal weil Schneider am Ende des Films
tatsächlich ein Blutbad anrichten wird und zum anderen, weil die Schauspielerin
Catherine Marchal bereits in „Gangsters“ (2002), dem Regiedebüt ihres Ehemanns,
eine Polizistin spielte, die alles aufs Spiel setzt – und alles verspielt.
Vordergründig erzählt „MR 73“ von der Suche
nach einem Serienvergewaltiger und -mörder, der im Modus eines bereits
verhafteten Täters vorgeht (der wird wiederum gespielt von Philippe Nahon,
dem Schlachter aus Gaspar Noés nihilistischen Filmen). Gegen Ende des
Films ist der junge Mörder tot, aber der alte wird wieder in die Freiheit
entlassen und hat sich nicht um ein Jota verändert. Das Böse wird
immer in der Welt bleiben: Fängt man den einen ein, so geht draußen
bereits der nächste um. Schneider trifft in der jungen Justine (Olivia
Bonamy), deren Eltern von Nahons abstoßender Figur abgeschlachtet wurden,
seinen Engel aus Staub, seine Chance auf Erlösung. Bonamy spielt sie
als New-Wave-Engel mit blondierten, vom Kopf abstehenden Haaren und schwarzen
Augen, die direkt in den Abgrund blicken lassen. Einmal sagt Schneider, Niemand
wolle, dass es geschieht und doch geschehe es. Und am Ende geschieht es tatsächlich;
nur anders, als man erwartet.
So düster der Plot von Marchals Films ist, optisch
hat er einen Schwarzweißfilm in Farbe gedreht. Viele Sequenzen sind entweder
farbentsättigt oder in einer monochromen Farbpalette eingerichtet; mal
blaugrau, dann sepia, dann wieder graubraun, rostrot, ein anderes Mal sind es
lediglich Schneiders rot getönte Brillengläser, die Farbe ins Bild
bringen. Die Rückblenden sind sowieso Schwarzweiß. In die dunklen
Innenräume frisst und schneidet sich Licht in gleißenden Bündeln
durch Jalousien oder Fenster. Zu Anfang des Films, in der Arrestzelle, in den
Duschen im Knast und in den Fluren davor, scheinen die Wände geradezu wegzufaulen,
aufgerissen und aufgeplatzt begrenzen sie den blaugrau ausgeleuchteten Raum.
Auch das Draußen ist wenig einladend. In einer Aufsicht spät im Film
auf eine wüste Landschaft erscheint auch diese wie von Schimmel befallen.
Manchmal wirkt das alles näher an der Welt Victor Hugos als an der Moderne.
„MR 73“ ist ein Film aus einem Schattenreich, zwischen Vergangenheit und Gegenwart
pendelnd, und beides ist doch gleich grässlich. Die MR 73 im Titel ist
übrigens ein Revolver, eine Manurhin-Spezialanfertigung. Sie wird erst spät im Film
eingeführt und funktioniert vor allem als Referenz an frühere Films policier wie Alain Corneaus „Police Python 357“ (1976). Auch
wenn Marchal wie hier viel zitiert und auf andere Filme verweist, insbesondere
auch auf „Poussière d’ange“ („Engel aus Staub“, 1987), so ist es ihm
mit dem Abschlussfilm seiner Polizeifilmtrilogie doch gelungen, den Dunkelschattierungen
des französischen Polizeifilms eine ganz eigene Nuance hinzuzufügen.
Es ist eine Schande, dass der Film, der im März [2008 - die fz-Redaktion] in Frankreich angelaufen ist und dort seit Kurzem auch auf
DVD erhältlich ist, offensichtlich keinen deutschen Kinostart bekommen
wird. Aber andererseits verwundert das angesichts seiner allumfassenden Düsternis
kaum.
Harald
Steinwender
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: Splatting Image
MR 73
F 2008, Regie und Drehbuch: Olivier Marchal; Kamera: Denis Rouden; Produzenten: Franck Chorot, Cyril Colbeau-Justin, Jean-Baptiste Dupont; Musik: Bruno Coulais; Schnitt: Raphaëlle Urtin; Darsteller: Daniel Auteuil, Olivia Bonamy, Catherine Marchal, Francis Renaud, Philippe Nahon, Gérald Laroche, Guy Lecluyse u. a.
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