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Mülheim - Texas: Helge Schneider hier und dort
Eigentlich dürfte es diesen Film
gar nicht geben. „Von dem, was die anderen nicht von mir wissen, lebe ich“,
sagt Helge Schneider einmal.
Warum sollte Helge Schneider wider die eigenen Interessen handeln?
Andererseits: Wer aber spricht diesen Satz? Helge Schneider oder „Helge Schneider“?
Der kreative Helge hat über Jahrzehnte mit viel Konsequenz eine ziemlich
komplexe Kunstfigur „Helge Schneider“ geschaffen, die es ihm ermöglicht,
die Grenze zwischen beiden Figuren tendenziell aufzuheben. Allerdings nicht
in Richtung einer irgendwie verbindlichen Authentizität. Wenn Helge also
über Helge sagt, dass es Dinge gibt, die die anderen von Helge nicht unbedingt
wissen müssen, dann ist das natürlich eine Steilvorlage für einen
Film, der genau diese Geheimnisse zu lüften versucht: Wie sieht der echte
Schneider hinter Helge aus? Wie viel Helge steckt in Schneider und wie viel
Schneider in Helge? Die Filmemacherin Andrea Roggan hat diese Herausforderung
angenommen, aber nur Helge könnte letztlich sagen, wie gut sie ihren Job
gemacht hat. Denn im Film hat es den Anschein, als habe Helge Schneider seine
Zusage mitzutun erst bedauert und anschließend entschieden, das Projekt
durch entschiedenen Widerstand so zu hintertreiben, dass Helge und „Helge“ wie
Zwillinge erscheinen – und gleichermaßen künstlich.
Mitunter verblüfft die resultierende „Aufzeichnung der Kampfzone“,
wenn etwa Schneider von der Filmemacherin nach seinem Freiheitsbegriff befragt
wird und kess antwortet: „Freiheit muss man sich nehmen!“, aufsteht und den
Raum verlässt. Roggan hat sich davon nicht schrecken lassen und hat einfach
weitergedreht, hat Impressionen gesammelt: Schneider vor dem Computer, Schneider
beim Paddeln auf der Ruhr, Schneider beim unfallträchtigen Traktorfahren
auf seinem Grundstück, Schneider beim Faxenmachen in Spanien, Schneider
in der Open Air-Badewanne, Schneider bei der Arbeit im Studio oder Schneider
bei der Arbeit mit Alexander Kluge, wo Schneider als „Helge“ noch diverse andere,
weitere Rollen durchaus listenreich spielt. Weil das alles vielleicht unterhaltsam
ist, aber nicht gerade erkenntnisfördernd und weil Roggan aus unerfindlichen
Gründen keine Dritten zu Schneider befragen wollte, flüchtet sie schließlich
ins Archiv und präsentiert exemplarische Etappen von Helge Schneiders Karriere
als singende Herrentorte, als Jürgen Potzkothen in „Johnny Flash“
(fd 26 675) und schließlich in jener Schlüsselszene aus „Texas –
Doc Snyder hält die Welt in Atem“ (fd 30 546), in der Doc Snyder sich sturköpfig
dem erwartbaren Genre-Happy End verweigert: „Och nö, lass mal lieber!“
Schließlich erlebt man Schneider auch noch bei der Arbeit mit der Band als einen Perfektionisten, der von seinen Mit-Musikern höchste Konzentration verlangt, damit sie beim „spontanen“ Fehlermachen keine richtigen Fehler machen. Wer schon einmal das fragwürdige Glück hatte, eine Helge Schneider-Show an zwei aufeinanderfolgenden Abenden zu besuchen, wird eh mit dem Wort Improvisation künftig vorsichtiger umgehen. So gerät „Mülheim – Texas: Helge Schneider hier und dort“ gewissermaßen zur Helge-Version einer Homestory bei Helge Schneider. Viel näher als dieser Film wird man Helge Schneider wohl nicht kommen. Ob man dieses Spiel mitspielt, muss jeder selbst entscheiden. Chilly Gonzales, der auch schon ein Konzert gemeinsam mit Helge Schneider gespielt hat, erzählte in einem persönlichen Gespräch einmal, dass manche Künstler ganz und gar unsympathisch erschienen, bis man ihnen persönlich begegne und sie sich als äußerst liebenswert zeigten. Im Falle von Helge Schneider sei das anders gewesen: der erste Eindruck habe sich vollkommen bestätigt. Ein ernüchternder Befund, den Roggans Film untermauert.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: filmdienst 08/2015
Mülheim - Texas: Helge Schneider hier und dort
Deutschland 2015 - 89 min. - Regie: Andrea Roggon - Drehbuch: Andrea Roggon
- Produktion: Ulla Lehmann, Andrea Roggon - Kamera: Petra Lisson - Schnitt:
Natali Barrey - Verleih: Piffl - FSK: ohne Altersbeschränkung - Besetzung:
Helge Schneider, Andrea Schumacher, Peter Thoms - Kinostart (D): 23.04.2015
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