zur startseite
zum archiv
zu den essays
Nackt
Die
nackte Motorik
In
der Schlusssequenz von Mike Leighs »Nackt« räkelt sich Louise
(Lesley Sharp) glücklich in der Badewanne, glaubt sie doch, den unsteten
Johnny (David Thewlis) an sich gebunden, auf eine Rückkehr ins heimatliche
Manchester fixiert und für die tägliche Tasse Tee gewonnen zu haben.
Der Film verweilt einen Augenblick; die Szene ist erbaulich, aber trügerisch.
Denn Johnny ist schon weg, auf der Straße, hier in London; die 380 Pfund,
die ihm nicht gehören, in der Tasche; das Bein ist kaputt; er hüpft
auf dem anderen; eine unerhörte Anstrengung; er fällt an den ersten
rettenden Laternenpfahl; atmet kräftig durch; nächster Hops. – Keine
Frage; dass dies ein attraktives Bild für die Handkamera ist, die sich
vor ihm eilig zurückzieht. Dass er Louise sitzen lässt, ist zwar eine
Gemeinheit. Dass er, der Bettlägerige, zu dieser kraftvollen, vitalen Bewegung
imstande ist, berechtigt jedoch zu den schönsten Hoffnungen. Sein überraschend
großer Elan gibt uns in dieser moralisch fragwürdigen Situation die
Gewissheit, dass er zweifelsohne über ein das Überleben garantierendes
motorisches Potential verfügt. Was, so bös das für die badende
Louise auch sein mag, doch eine gute Sache ist. Weil die Kamera der Hüpfaktion
ungeteilte Zuwendung schenkt. Sie, die am Wannenrand noch träge verharrt
hatte, schreibt auf dem Pflaster den Raum nicht vor, sondern lässt die
Szene ihren Verlauf nehmen. Das gibt Streicheleinheiten für den Schauspieler,
der sich austobt.
Es
ist Zeit, festzuhalten, dass Mike Leigh durch die Wahl der ästhetischen
Mittel als unverhohlener Sympathisant der lebenserhaltenden Motorik erscheint,
auf die um so mehr Verlass ist, je weniger der Held den sozialen, moralischen
und konventionellen Erwartungen genügt. »Es ist egal, wo man ist«,
sagt Sophie (Katrin Cartlidge), ob in Manchester »oder in Simbabwe«,
oder war es Sambia? Dieses »egal« wird üblicher- und überdrüssigerweise
vom deutschsprachigen Betroffenheitsfilm gern als beklagenswerte Gleichgültigkeit
und therapiebedürftigen Verantwortungslosigkeit gerügt. Bei Mike Leigh
kommen derart wehleidige Verzagtheiten gar nicht erst auf. Es ist eine Freude
mitanzusehen, wie der Film das Egal-ob-Louise-oder-Sophie als schöne kraftvolle
Aktion in Bewegung umsetzt. Johnnys Weiß-Nicht wird wohlgefälliges
motorisches Ornament: Die Kamera kostet die Bewegungsfreiheit des Unentschieden-Seins
aus. Sie läuft aus dem Zimmer, in welchem Louise vor dem TV fixiert ist,
ins Treppenhaus, steigt, der Architektur des Miethauses gehorchend, im rechten
Winkel ein paar Stufen hoch, Sophie folgend, die dem Helden nachläuft.
Im gleichen Rhythmus geht es zum TV-Zimmer zurück, ein Kuss für Louise,
wieder geht es nach links, in die Küche, ein Kuss für Sophie; wir
haben inzwischen das »nachlaufende« Tempo verinnerlicht; im Treppenhaus
wieder ein rechter Winkel, diesmal nach unten auf die Straße. Die Unentschiedenheit
ist erfolgreich in Bewegung umgesetzt.
Gleich
in der anschließenden Sequenz, nachts auf der Straße, geht die Kamera
erwartungsfroh in Stellung, um sich an dem steten Wechsel zu erfreuen, in dem
Johnny und seine Straßenbekanntschaft Archie (Ewen Bremner) ins Bild laufen
und wieder raus. Wieso erfreuen? Denn eigentlich hätten wir doch soziale
Problematik wahrnehmen sowie das einwandfrei frauenfeindliche Verhalten des
jungen Schotten Archie mit Betroffenheit registrieren und mit Entschiedenheit
verurteilen müssen. Sucht doch der aggressive Archie seine Maggie (Susan
Vidler) nur, um sie dann treten und beschimpfen zu können. »Maggie!!!«
schreit er, und sein Kopf zuckt nach links. Zehnmal reagiert er mit einem halbdebilen
»Eh?« auf Johnnys Fragen. – Eine wohltemperierte rhythmische Komposition
von Lauten, Gesten, Gängen und Kamerabewegungen lässt den üblichen
sozialpädagogischen Mief gar nicht erst aufkommen; die Rezeption ist uns
freigestellt. Mike Leigh hat Spiel in die anrüchige Sequenz gebracht. Wenn
wir dies wahrnehmen, sind wir bereits in die Inszenierung einbezogen. Die rhythmische
Struktur dieser Sequenz setzt reichliches Bewegungspotential in Gang. Das kann
nur etwas Gutes sein, sagt der Regisseur, indem er sich auch den moralisch bedenklichen
Menschen seines Films liebevoll zuwendet. Schon wieder zuckt Archie nach links.
Gut, er hat einen Tick. »Wie ist das, wenn man so ist?« fragt ihn
Johnny. Eine verbale Zuwendung innerhalb der Szene. Und ein humanes, wenn auch
rhythmisch begründetes Interesse.
Ein
Tick, repetitive Struktur und verlässliches Ornament, ist dem Nachtwächter
als Dienstvorschrift vorgegeben. Die Regeln seiner Tätigkeit in dem leerstehenden
Bürogebäude dienen dem Film zur Organisation der Montagesequenzen.
Wie setzt man die 23 Zeitkontrollen um, die sich alle zwei Stunden wiederholen?
Regelmäßig die Uhren gestochen! Das erfordert spielerisches Geschick,
verinnerlichten Zeitablauf. Die Kamera geht mit Wonne auf den Kontrollgängen
mit. Wieder sind die vielbeschworenen Werte, um die es dabei gehen könnte,
abwesend oder doch ungewiss. Das Gebäude steht leer. Der betriebliche Aufwand
erscheint völlig unangemessen. Der Inhalt der Bewachungstätigkeit
ist entkernt. Und wieder setzt das (betriebliche, soziale, menschliche) Vakuum
Bewegungsenergie frei. Johnny und der Wachmann werden auf ihren rituellen Gängen
von einer aller Arbeitsplatzbeschreibung spottenden verbalen Motorik angetrieben:
ein leer laufendes, das Ende der Welt in Augenschein nehmendes Spiel mit Worten
aus der Bibel, der Apokalypse, den Zeichen des Nostradamus und den Strichcodes
auf Konsumartikeln. – Das Ergebnis des Worte-Spiels erscheint wenig sinnvoll.
Aber um pädagogische Ziele oder gar Schlusskommuniqués ging es nicht.
Das Spielen selbst, die Tätigkeit, das Austauschen der Sätze, erfüllt
den humanen Zweck. »Nackt« ist ein Film der Verben, nicht der Substantive.
Deswegen lässt er hoffen. Es klingt unangenehm pathetisch, aber es ist
für alle Beteiligten schon äußerst angenehm, dass in Mike Leighs
Film das letzte Wort nicht gesprochen wird.
Selbst
an dem bösen Zynismus, mit dem sich Jeremy (Greg Crutwell) als Vermieter
aufspielt, kann man dank der glücklichen motorischen Umsetzungskünste
des Films klammheimliche Freude haben. Gewiss, wieder sind sie ostentativ frauenverachtend,
diese Jeremy-Auftritte. Umgekehrt könnte man sagen, dass das Männerbild,
das diese Szenen entwerfen, nicht minder verachtend ist. Aber all diese Festlegungen
sind falsch. Nicht nur, weil Jeremy, zu dem sich keiner gesellen will, zur Strafe
die Filmhandlung vorzeitig verlassen muss. Sondern weil er persönlich zu
rhythmisch strukturierten Bewegungen nicht in der Lage ist. Zwar ist er als
einzige der handelnden Personen motorisiert, aber er kann sein hochgerüstetes
Auto nur zum fluchtartigen Abgang nutzen. In seinen Sequenzen bleibt er trotz
aller Aggressivität posenhaft-passiv. Ziemlich nackt, wenn auch mit einem
Slip bekleidet, liegt er auf dem Rücken; den Body lässt er sich in
dieser pervers-grotesken Szene von Sophies langen schwarzen Haaren peitschen.
Aber das ist Fremdmotorik, die ihn von nichts befreit. Auch wird er durch die
inszenatorische Zuspitzung lächerlich gemacht. Wir können als Zuschauer
das Spiel durchschauen. – Die Montage der Parallelhandlungen (Johnny/Jeremy)
schaukelt sich im Laufe des Films hoch. Das Tempo beschleunigt sich bis zur
vereinenden Sequenz. Wer rhythmisches Gespür hat, wird die satirische Beschleunigung
spüren, die nicht weiter bezweckt, als einen wenig sympathischen Zeitgenossen
aus dem Haus Nr. 33 hinauszukatapultieren.
Motorische
Staus abbauen. Aggression motorisch umsetzen: Ein Missverständnis wäre,
Mike Leigh kathartische Absichten zu unterstellen. Dezidiert lässt er im
Film den emsigen Plakatkleber das Angebot (»Therapy?«) in derselben
Nacht wieder überkleben (»Therapy cancelled«). Es geht nicht
um Sozialhilfe. Wohl aber um das ritualisierte Headbanging. – Johnny gerät
neben dem hektischen Plakatkleber verbal in Rage. Er hat das Rap-Tempo drauf,
a capella. Sein Adressat könnte meine, er werde zugelabert. Johnny schlägt
seinen Kopf an die Plakatwand, ein freier Rhythmus. Da die vielen Worte Sinn
nicht stiften, kann abermals Energiepotential freigesetzt werden. Schon haut
er seinen Kopf gegen einen Laternenmast. Hört jetzt der Spaß auf?
Eventuell, doch größere Besorgnis vermag sein Elan nicht zu erregen.
Spitzen
wir es zu. Je hysterischer, desto motorischer. Eine Konstante in Leighs Filmen.
Satirisch, inszenatorisch überspitzt, aber gerade deswegen präsent,
zum Mitspielen einladend: die Frau aus »Kiss of Death«, 1977, die
sich, Kaskaden von Sätzen ausstoßend, im fremden Haus an der Treppe
festkrallt, um Kommunikation zu erzwingen. Oder im Gegenteil die unglückliche
böse Tochter in »High Hopes«, 1988, die das »egal«
und Weiß-Nicht noch nicht entdeckt hat und in Folge dessen zu segensreichen
motorischen Leistungen nicht in der Lage ist: Dieser Hysterikerin ist nicht
zu helfen. Wohl aber wieder der Simbabwe-Touristin Sandra (Claire Skinner) in
»Nackt«. Sie hat es raus, Impuls und Gegenimpuls gleichzeitig auszusenden,
nach rechts zu gucken und links zu gehen, das eine zu sagen und das andere zu
tun. Eine Karikatur der »ordentlichen« Hausfrau? Putzend, wischend,
für Ordnung sorgend? – Weit gefehlt, denn ihre Rolle nimmt den Status quo
nicht ins Visier. Stattdessen ist eindrucksvoll zu sehen, wie die nackte Motorik
in Fahrt kommt. Der Sandra-Spiel-und-Schnittrhythmus ist wahrnehmbar, hörbar,
zählbar: erschütternd, nervend, belustigend, befreiend – Motorik pur,
rein und nackt.
Dietrich
Kuhlbrodt
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: METEOR, Nr. 5 / 1996
Nackt
NAKED
Großbritannien
1993
Länge:
132 Minuten
Altersfreigabe:
FSK 16
Regie:
Mike Leigh
Drehbuch:
Mike Leigh
Produktion:
Simon Channing-Williams
Musik:
Andrew Dickson
Kamera:
Dick Pope
Schnitt:
Jon Gregory
Besetzung:
David
Thewlis: Johnny
Lesley
Sharp: Louise Clancy
Katrin
Cartlidge: Sophie
Greg
Cruttwell: Jeremy G. Smart
Claire
Skinner: Sandra
Peter
Wight: Brian
Ewen
Bremner: Archie
Susan
Vidler: Maggie
zur startseite
zum archiv
zu den essays