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Neukölln
Unlimited
Ein
geschmeidiger Film über Integration in Deutschland – wider die Erwartungen
an Berlin-Neukölln und die Gattung des Dokumentarfilms.
Filme
werden geplant, geschrieben, montiert. Die Gemeinsamkeiten von dokumentarischen
mit fiktionalen Arbeiten sind schon im Entstehungsprozess nicht zu übersehen.
Da werden Konzepte oder Treatments erstellt, Darsteller ausgewählt, eine
Dramaturgie aufgebaut. Eine Trennung zwischen gefundenen und erfundenen Geschichten
lässt sich nur in der Theorie einfach vollziehen. Die Vermischung der beiden
Herangehensweisen ist inzwischen so sehr Usus, dass Dokumentarfilmfestivals
damit begonnen haben, Spielfilme zu zeigen, und in die Wettbewerbe von Cannes
und der Berlinale seit einigen Jahren semi-dokumentarische Filme aufgenommen
werden.
Auch
Neukölln
Unlimited
wird die Bezeichnung Dokumentarfilm kaum gerecht. Denn er verwebt dramaturgisch
geschickt montierte Szenen aus dem Alltagsleben seiner Protagonisten mit Animationen,
die ihre Erinnerungen rekonstruieren, und mit aufwändig inszenierten Bühnenauftritten.
Nicht zuletzt sprechen die Familienmitglieder aus dem Off über ihre Geschichte
und werden zu den Erzählern des Films, der in seiner Anmutung das Dokumentarische
geradezu vermeidet. Neukölln
Unlimited
ist das subjektive Zeugnis einer aus dem Libanon stammenden Familie, die seit
16 Jahren in Deutschland „geduldet“ wird und zwischenzeitlich einmal abgeschoben
wurde. Einer Familie, die den Gegenentwurf zu vorherrschenden Klischees über
Problembezirke und integrationsunwillige Bürger darstellt.
Die
Geschwister Hassan und Lial geben die energischen, engagierten und vor allem
talentierten Teenager, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Familie durchzubringen,
sei es als Tänzer, Sängerin oder Managerin von Boxkämpfen. Neukölln
Unlimited
reitet dabei ein wenig auf der Welle von Vorjahreserfolgen wie Prinzessinnenbad und
love,
peace & beatbox,
die jeder auf seine Art die Vielfalt und Vitalität von Berlin zelebrieren.
Der Ton ist aufgrund des politisch brisanten Sujets mitunter ernster – doch
meistens setzen die Regisseure Agostino Imondi und Dietmar Ratsch auf Geschmeidigkeit
und Humor. Die Titelsequenz inszeniert in einem 360-Grad-Schwenk eine graue
Neuköllner Straße als Times Square – die Verheißung für
diese Familie ist unser Alltag: in Deutschland bleiben zu dürfen. Die ständig
thematisierte Bedrohung, ausgewiesen zu werden, treibt sie an und gibt dem Film
seine Dramatik.
Der
klassische Stoff vom lebensbejahenden Kampf um ein selbstbestimmtes Leben scheint
sich wie von selbst aus der Geschichte der Protagonisten zu ergeben. Lediglich
im Strang um den jüngeren Bruder Maradona, der als Problemkind Sorge und
Chance der Familie zugleich darstellt, wird die dramatische Konstruktion teilweise
zu sehr sichtbar. Die Selbstreflexion und der Witz der drei Geschwister lenken
davon allerdings schnell ab. Die Wahl der Jugendlichen ist auch deshalb für
den Film so entscheidend, weil sie durch ihre Jobs und Hobbys für eindrückliche
Filmszenen sorgen – etwa von einem Breakdance-Battle – und sehr anschaulich
von sich selbst erzählen können. Neukölln
Unlimited
weiß das selbstdarstellerische Talent der Ausnahmefamilie für eine
allgemeingültige Erzählung zu nutzen, ein Plädoyer für einen
menschlichen Umgang mit Asylbewerbern, für die Integration von Migranten
und nicht zuletzt für das Bleiberecht derjenigen, die schon längst
nur noch auf dem Papier Ausländer sind.
Frédéric
Jaeger
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: www.critic.de
Neukölln
Unlimited
Deutschland
2010 - Regie: Agostino Imondi, Dietmar Ratsch - Darsteller: (Mitwirkende) Lial
Akkouch, Hassan Akkouch, Maradona Akkouch - FSK: ohne Altersbeschränkung
- Fassung: Original (arabisch, deutsch) m.d.U. - Länge: 96 min. - Start:
8.4.2010
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