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Orphan
- Das Waisenkind
Wucherungen
in der Keimzelle
Horrorfilme
zielen stets auf die Inszenierung einer Bedrohung des Privaten ab. Selbst dann,
wenn sich der Horror weltweit verbreitet, wird dies dem Zuschauer immer noch
in den Konsequenzen für den Einzelnen und sein emotionales Umfeld verdeutlicht.
Die Bedrohung wird damit einerseits greifbar und berührt andererseits einen
Kern unseres Selbstverständnisses, den wir als besonders empfindlich erachten.
Wenn – wie im Kinder-Horrorfilm – die Bedrohung sogar aus der Keimzelle des
Privaten, dem Kinderzimmer, erwächst, wirkt dies besonders verstörend
und ermöglicht den Plots damit besonders radikale Problemlösungsstrategien
vorzustellen.
Zu
zeigen, wie ein Kind getötet wird, ist im US-amerikanischen Horrorfilm
immer noch ein Tabu – es sei denn, es ist ein böses Kind, wie die kleine
Esther, ein russisches Waisenmädchen, das in die von Krisen und Traumata
geschüttelte Familie von Kate und John Coleman kommt. Beide haben ihr drittes
eigenes Kind verloren, noch während Kate damit schwanger war. Zudem ist
die Mutter eine labile Alkoholikerin, die versucht, trocken zu bleiben, während
ihre Ehe durch eine Affäre Johns ins Wanken gerät. Als die kleine
Esther auf ihre neuen Geschwister, die jüngere taubstumme Max und den etwa
gleichaltrigen Daniel trifft, beginnt sie ganz langsam ein zerstörerisches
Werk: Sie bedroht und manipuliert zunächst die Kinder, dann wiegelt sie
den Vater mit Verleumdungen und inszenierten Unfällen gegen seine Frau
auf. Sie begeht Körperverletzungen und Schlimmeres an all jenen, die sie
an ihrem Werk hindern wollen oder in ihrer Vergangenheit herumschnüffeln.
Esther birgt nämlich ein Geheimnis, das mit ihrer Herkunft zu tun hat –
und mit ihrer langjährigen Karriere als Pflegetochter.
Dass
die kleine Esther eine Russin sein musste, wäre für den Horror-Plot
gar nicht unbedingt notwendig gewesen – dessen Finale präsentiert eine
davon unabhängige, viel überraschendere Wendung. Es fügt sich
jedoch in den Diskurs des Films, der einerseits auf das Engelsgesicht-Motiv
anspielt, wie es aus Mervyn Le Roys Böse
Saat
von 1956 bekannt ist, andererseits holt es den paranoiden Horror- und Science-Fiction-Film
derselben Epoche in unsere Gegenwart: Don Siegels Die
Dämonischen
(1956) und mehr noch Wolf Rillas Das
Dorf der Verdammten
(1960) stehen als Beispiele für Subversionshorror, bei dem die kommunistische
Bedrohung als Unterwanderung der US-amerikanischen Wertvorstellungen kodiert
wird. Auch hier findet ein Angriff auf die Keimzelle der Gesellschaft statt,
die Familie, in der diese Werte tradiert werden. Wenn Orphan heute,
lange nach dem Ende des Kalten Krieges und eben jener ideologischen Paranoia,
noch einmal und so besonders erfolgreich auf dieses Motiv zurückgreift,
muss das andere Gründe haben.
Die
wären vielleicht darin zu suchen, dass selbst diese alten Angst-Gegenstände
ein Gefühl von Sicherheit und Heimat vermitteln, welches in Zeiten der
Verunsicherung und vermeintlichen Bedrohung durch einen diffusen »internationalen
Terrorismus« abhanden gekommen ist. Beinahe behaglich wirkt es, einen
Feind präsentiert zu bekommen, dessen böses Sinnen nach den alten
Klischees funktioniert. Vielleicht wäre damit auch jenes seltsame Motiv
des »Ost-Block-Horrors«, wie es durch Filme wie Severance (2006),
Hostel (2005)
oder Them
(2006)
in den vergangenen Jahren so überaus erfolgreich in die Kinos gekommen
ist, zu erklären. Orphan schließt
nahtlos an diese junge (und gleichzeitig ganz alte) Tradition an und präsentiert
einen dichten, gut erzählten, clever inszenierten und »heimelig«-unheimlichen
Film über die Bedrohung der Familie.
Stefan
Höltgen
Dieser Text ist zuerst erschienen im: schnitt
Orphan
- Das Waisenkind
USA
/ Kanada / Deutschland / Frankreich 2009 - Originaltitel: Orphan - Regie: Jaume
Collet-Serra - Darsteller: Isabelle Fuhrman, Peter Sarsgaard, Vera Farmiga,
Jimmy Bennett, Aryana Engineer, CCH Pounder, Margo Martindale - FSK: ab 16 -
Länge: 123 min. - Start: 22.10.2009
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