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Parabeton - Pier Luigi Nervi und Römischer Beton
Wenn sich im Fußball die Abwehr hinten reinstellt,
heißt es im Reporterjargon, wird Beton angerührt. Beton genießt
nicht nur im Sport einen schlechten Ruf. Er ist massiv, schwer und gewinnt selten
Schönheitspreise. Ein weit verbreitetes Urteil, das der Filmemacher Heinz
Emigholz nicht teilt. Seine Dokumentation „Parabeton – Pier Luigi Nervi und
römischer Beton“ hat er dem grauen Werkstoff, dem „flüssigen Stein“,
wie ihn schon die alten Römer nannten, gewidmet. Es ist das erste Mal,
dass sich Emigholz einem großen Architekten der Moderne von seinem Material
her nähert. In seinem Werkzyklus „Architektur als Autobiografie“ hat er
stets das Bauwerk in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt. Die Bauten
von Robert Maillard, Adolf Loos, Rudolph Schindler oder Bruce Goff versteht
Emigholz als Evidenz einer Autobiografie: geschaffene Fakten, die keiner Interpretation
bedürfen.
Hierfür hat er eine klare, formal strenge Filmsprache
entwickelt, welche die Architektur zum Ausgangspunkt macht und diese in ein
Verhältnis zum Betrachter setzt: unbewegte Einstellungen von unterschiedlicher
Länge, gedreht auf 35mm-Filmmaterial, unbearbeiteter Surround-Sound on location, ein Blickfeld, das dem des menschlichen Auges ähnelt,
eine chronologische Ordnung der Bauwerke und, als zentrale Forderung, eine „sinnstiftende“
Montage. Emigholz spricht von einer imaginären Architektur, die sich im
Kopf des Betrachters aus Einzeleinstellungen zusammenfügen soll. Damit
hat der Bildende Künstler und Dozent Emigholz in den vergangenen zehn Jahren
eines der geschlossensten analytischen Werke zum Thema Architektur und Raumgestaltung
im Film vorgelegt.
„Parabeton“ weicht in Nuancen vom vorgegebenen Konzept
der Reihe ab, weil Emigholz in den Konstruktionen des italienischen Baumeisters
Pier Luigi Nervi eine Kontinuität ausgemacht hat, die zweitausend Jahre
zurückreicht. Im Alten Rom ist die Arbeit mit Beton früh zur Kunstform
erhoben worden. Bauwerke wie das Pantheon in Rom oder der Tempel des Merkur
bei Neapel zeugen noch heute von der architektonischen Leistung der römischen
Bauherren. Nervi knüpft mit seinen Entwürfen an diese Tradition an,
doch hat er die antiken Errungenschaften in die Moderne überführt.
In seinen Bauwerken sind alle die schlechten Eigenschaften eliminiert, die man
gemeinhin mit Betonarchitektur verbindet. Die Dachkonstruktionen der Turiner
Ausstellungshallen oder die Sporthalle in Rom sind besonders schöne Beispiele
für die Bauweise Nervis. Die kunstvollen, fast filigranen Streben fügen
sich zu komplexen Mustern, die in ihrer Leichtigkeit an die schwebenden Trägerkonstruktionen
eines Buckminster Fuller erinnern. In den Konferenzräumen des UNESCO-Gebäudes
in Paris lässt er Leuchtröhren den Verlauf der Deckenstreben nachzeichnen,
so dass es scheint, als ruhten die Decken auf Licht.
Emigholz stellt einen direkten Bezug zu den römischen
Baumeistern her, wenn er zwischen den Arbeiten Nervis immer wieder die antiken
Ruinen des Alten Rom zum Vergleich heranzieht. Die Tonspur, die nicht mehr als
die Umgebungsgeräusche während der Aufnahmen wiedergibt, nimmt den
Einstellungen ihre Strenge, betont aber auch die soziale Funktion der Architektur,
die eben nicht im „toten Raum“ (einem Museum beispielsweise) existiert. Die
Immersion in diesen Raum ist dann auch das erklärte Anliegen von Emigholz.
Der Zuschauer soll die Architektur als lebenden Organismus „erfahren“ und ihre
räumliche Beschaffenheit bis in die Bausubstanz verstehen lernen. Jedes
gesprochene Wort ist hier überflüssig.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd Film 5/2012
Parabeton - Pier Luigi Nervi und Römischer Beton
Deutschland 2012 - Regie: Heinz Emigholz - FSK: ohne Altersbeschränkung-
Länge: 100 min. - Start: 31.5.2012
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