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The
Pervert’s Guide to Cinema
Zu Beginn eine Erinnerung an Jame Gump
(„Das
Schweigen der Lämmer“)
und seinen Wunsch, in eine andere, fremde Haut zu schlüpfen. Dazu eine
Stimme aus dem Off: „Unser Problem ist nicht, ob unsere Sehnsüchte befriedigt
werden oder nicht. Das Problem ist: Woher wissen wir, was wir ersehnen?“ Keine
Frage, diese Stimme, ihr Lispeln, ihre Energie und Dringlichkeit und ihr fortwährender
Kampf mit der englischen Sprache ist vertraut. Längst ist der Kulturtheoretiker
und Lacanianer Slavoj Žižek
dozierend ins Bild getreten. Žižek wässert einen Garten („Blue
Velvet“!) und erzählt,
dass menschliche Sehnsucht nichts Natürliches sei, sondern erlernt werden
müsse. Hier kommt das Kino, diese perverse Kunst, ins Spiel: „Es gibt einem
nicht, was man sich wünscht, sondern lehrt die Sehnsucht.“ In einem schönen
Filmausschnitt aus Clarence Browns „Possessed“ (1931) präsentiert er ein
Beispiel für „magic cinematic experience“, wenn Bilder und Geschichten
langsam am Zuschauer vorbei gleiten und ihn gefangen nehmen. In einem wilden,
aber ausgesprochen kenntnisreichen Ritt quer durch die Filmgeschichte bringt
Žižek die Subtexte hinter den Bildern und Erzählungen zum Vorschein und
zum Tanzen, mal mit Freud, mal mit Lacan. Seine Favouriten stehen dabei seit
Jahren fest: Hitchcock, Chaplin, Lynch, Kubrick, Haneke, Bergman, Tarkowski
und die Marx Brothers; Godard, Truffaut oder Antonioni liegen ihm hingegen nicht
so sehr. Es geht Žižek nicht um psychoanalytisch inspirierte Filminterpretationen,
sondern um einen grundlegenden Dialog zwischen Film und Philosophie/Psychoanalyse,
ganz im Sinne des Titels des Sammelbandes, der ihn Ende der 1980er-Jahre bekannt
machte: „Was Sie immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie
zu fragen wagten“. Deshalb dreht sich alles um absurde Vaterfiguren bei Lynch,
um den Phallus und andere „große Dinge“, um die vom Körper abgelöste
Stimme in „Der
Exorzist“ oder „Das
Testament des Doktor Mabuse“,
um Vergewaltigung durch Worte, um „böse Blicke“, mit denen sich der Kinozuschauer
identifiziert, um Sowjet-Musicals, Disneys „Pluto“ und die stalinistischen Schauprozesse.
Žižeks These: Wir brauchen die Fiktion, um spielerisch unsere „wahre“ Natur,
die ultimativen Sehnsüchte „auszuleben“. Seine Schlusspointe: „Wenn Sie
nach dem suchen, was in der Realität realer als Realität selbst ist,
dann beschäftigen Sie sich mit filmischer Fiktion.“
Žižek parliert auf Augenhöhe mit
den Cinephilen, die ihm problemlos von Bobby Peru zu Norman Bates, von der Zone
in „Stalker“ in den Keller des Hauses oberhalb von
„Bates Motel“ folgen können, die sich an Scottie und Madeleine/Judy, aber
auch an Judy (Garland) und ihre roten Schuhe im „Zauberer von Oz“ erinnern und
das Zitat aus „Wild
at Heart“ erkennen. Dank
des Kultur-Discounters Zweitausendeins erfährt Sophie Fiennes’ von der
Kritik gefeiertes essayistisches Porträt „The Pervert’s Guide to Cinema“
aus dem Jahr 2006 hierzulande einen verspäteten Kinostart; eine stark gekürzte
Fernseh-Erstausstrahlung gab es im Juni 2008 auf 3sat. An „The Pervert’s Guide“
hat Žižek konzeptionell entscheidend mitgewirkt, und es spricht für den
abgründigen Humor des Slowenen, dass er sich in entscheidende Filmszenen
seines Analyse-Parcours lustvoll hinein imaginiert. Wenn es um die berühmte
erste Vogelattacke in Hitchcocks „Die
Vögel“ geht, dann
überquert der Philosoph wie einst Melanie Daniels mit einem kleinen Motorboot
die Bucht von Bodega Bay und erklärt dem Zuschauer, dass das angriffslustige
Federvieh „natürlich“ ein Bild für die rohe, inzestuöse Energie
der eifersüchtigen Mutter von Mitch Brenner ist. Wer hat schon mal überlegt,
warum Hitchcock in „Psycho“ so ausführlich die Reinigung des
Badezimmers nach dem Mord zeigt? Über Pornografie heißt es hier,
dass man zwar alles gezeigt bekommt, dafür allerdings den Preis zu zahlen
hat, dass die Geschichte, die die sexuellen Handlungen motiviert, nicht ernst
genommen werden darf. Filme, die den Zuschauer emotional addressieren, dürfen
im Gegensatz dazu keine sexuellen Aktivitäten zeigen. Fraglich, ob das
nach „29
Palms“, „Intimacy“ oder „9
Songs“ so rigide noch
haltbar ist. Glanzvoll dann allerdings wieder Žižeks Beobachtung, wie die „Tragik
der Pornografie“ versuchsweise durch Worte, aber gerade nicht durch Bilder überwunden
werden könnte. Beispiele liefern Kubrick, Lynch und auch Bergman. Žižek,
bestens ausgestattet mit dem entschiedenen Mut zur überkandidelten Zuspitzung,
kommentiert Filmausschnitte von der Toilette aus, kommt vom Hölzchen aufs
Stöckchen, glänzt durch erstaunliche intellektuelle Volten und scheint
mit seiner Energie den Bildausschnitt sprengen zu wollen. Man kann diese nervöse
Theorie-Performance für ein intellektuelles Vergnügen ersten Ranges
oder für Schaumschlägerei halten, zumal Žižek Schwierigkeiten haben
dürfte, seine steilen Thesen für die geschlossene Interpretation eines
einzelnen Films tauglich zu machen. Ihm geht es eher um eine vertikale Passage
durch einzelne Szenen und Einstellungen, die quasi unbewusste Verdichtungen
psychoanalytischer Konstellationen sind oder doch immerhin sein könnten.
Vieles scheint bedenkenswert, bereichert die Filmklassiker und macht neugierig
auf ein Wiedersehen.
Ulrich
Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-Dienst
The
Pervert's Guide to Cinema
Großbritannien / Österreich / Niederlande 2006 - Regie: Sophie Fiennes - Darsteller: (Mitwirkende) Slavoj Žižek - FSK: ab 16 - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 154 min. - Start: 12.3.2009
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