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Pickpocket
PICKPOCKET
entstand nach nur zehnmonatiger Vorbereitungszeit in der Mitte des Jahres 1959,
fast gleichzeitig mit Godards A
bout de souffle.
Er weist von allen Filmen Bressons die stärksten Gemeinsamkeiten mit den
Filmen der Nouvelle Vague auf, beeinflußte viele Regisseure dieser Generation.
PICKPOCKET, teilweise improvisierend gedreht, gehört zu den zugänglichsten
Filmen Bressons, der hier ein wichtiges Seitenthema seiner früheren wie
späteren Filme zum zentralen Gegenstand gemacht hat: die Bedeutung von
Objekten und die Beziehung zu ihnen. Der Film ist in seiner formalen Struktur
die Reflexion dieses Themas; noch stärker als in Ein
zum Tode Verurteilter ist entflohen
macht er Gebrauch von Detailaufnahmen, Gesichtern, dem Spiel der Hände,
mit Uhren, Brieftaschen, von Armen und Beinen, Bruchstücke von Treppen
und Türen. Er entwickelt die Physiologie der Welt Michels (Martin Lassalle),
des Taschendiebs. So fragmentarisch, isolierend wie dieser die Welt wahrnimmt,
so verfährt auch der Film. Er identifiziert sich mit der Perspektive Michels.
Trotzdem geht PICKPOCKET von Anfang an darüber hinaus. Indem er sich der
Perspektive Michels angleicht, findet er den Zusammenhang von Michels Leben,
der diesem selbst nicht deutlich oder bewußt wird. Der Film deckt die
geheimen Gesetze von Michels Existenz auf. Zum erstenmal löst Bresson hier
wohl überzeugend sein Versprechen ein, durch ästhetische Arbeit, die
Abkehr vom photographischen Realismus widerspruchsfreier Realität und die
Wahl von »Modellen«, die nicht eine Intention schauspielerisch »ausdrücken«,
sondern die »sein« sollen, die Wahrheit jenseits der Welt des Einsichtigen,
des Abgeschlossenen zu finden. Dabei bewahrt ihn die Identifikation mit den
Figuren des Films, seine Suche nach Authentizität, vor eifriger Transzendenz
und Versicherungen.
Er
besitzt wie schon Ein
zum Tode Verurteilter ist entflohen
nicht die Dramaturgie von Entwicklungsprozessen und psychologischen Studien.
Er zeigt Entscheidungen, Handlungen, Verhalten, also: das Sein der Menschen.
Michel, den wir zu Beginn beim Pferderennen in Longchamp sehen, hat sich bereits
entschieden: er steht hinter einer Frau und versucht, das Schloß ihrer
Tasche zu öffnen. Es gelingt; Michel entnimmt das Geld im gleichen Augenblick,
da die Frau sich zum Gehen wendet. Er verläßt die Rennbahn. Sein
Kommentar, der wie ein Tagebuch den Film begleitet: »Ich ging nicht mehr
auf der Erde. Ich beherrschte die Welt.« Einen Augenblick später
ist er verhaftet; nichts hatte darauf hingewiesen. Damit ist bereits die Grundfigur
des Films umrissen; der Rest ist ihre Entwicklung. Offenbar lebt Michel, mit
seinem abwesenden, auf etwas irgendwie Entferntes gerichteten Blick, in einer
abgeschlossenen, einsamen Welt. Gleichgültig gegen die äußere
Wirklichkeit, richtet sich seine Konzentration auf eine Handlung, ein Objekt:
den Taschendiebstahl.
Michael
Balint hat in seinen Untersuchungen zu Angstlust und Regression eine Typologie
entwickelt, in der sich der Typ des anklammernden, vom Objektverlust bedrohten
und der die Objekte vermeidenden oder sie erobernden Menschen gegenübersteht.
Beide versuchen pathologisch, die außerordentliche Schwierigkeit, die
als unerträglich empfundene Trennung von Subjekt und Objekt, zu umgehen.
Der eine, vor seiner Selbständigkeit zurückweichend, indem er magisch
sich des Besitzes der Objekte versichert; der andere, indem er jene Trennung
verleugnet. Mit großer Genauigkeit hat Bresson, Antipsychologe, psychologisch
in Michel die entscheidenden Züge auf kürzestem Raum vereinigt. Michel
erprobt ein magisches Ritual. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals; die Erregung,
der thrill, mehr
als einfache Angst, besteht in der Mischung aus Furcht vor der Übertretung
eines Verbotes und der wilden Vorfreude über die Erreichung des begehrten
Objekts, dessen Besitz die »Allmacht der Gedanken«, das Gefühl,
die Welt zu beherrschen, wiederherstellt. Michel lebt in einer Welt ohne Objekte,
außer jenem einen; die Beziehung zu seiner Mutter, der er zum erstenmal
Geld stahl, verbirgt sich hinter seinen Handlungen. Nur der Besitz dieses einen
Objekts gibt ihm die Allmacht. Alle Energie und Konzentration richtet sich auf
die Eroberungsarbeit. Jedoch was er da erobert, ist das Abstrakteste, Gleichgültigste
überhaupt: Geld. Niemals macht er Gebrauch davon, er versteckt es in seinem
Zimmer. So liegt die Bedeutung des Rituals im kurzen Moment des Inbesitznehmens,
im glücklichen Einsatz der Hände, der Präzision,des Visuellen,das
sich in einer eigenen Welt überlegen etabliert. PICKPOCKET konstruiert
eine Wahrnehmung, die der Suche, der Obsession und Fixierung Michels entspricht.
Daher bricht er mit der Perspektive des Alltags. Daher die Besessenheit von
Details, Momenten, verschwindenden Gesten. Die Suche nach dem Glück, die
sich selbst nicht versteht, ist das Thema. Diese Suche führt der Film über
eine selbstsichere psychologische Untersuchung hinaus. Bresson urteilt nicht
moralisch über Michel, sondern dokumentiert dessen Weg.
Da
kein Beweis für Michels Diebstahl auf der Rennbahn vorliegt, wird er wieder
freigelassen. Jeanne (Marika Green), die im gleichen Haus wie seine Mutter lebt,
gibt er einen Teil des Geldes. Er selbst will seine todkranke Mutter nicht sehen.
Zusammen mit seinem Freund Jacques (Pierre Leymaire) trifft er den Kommissar,
der ihn freigelassen hatte. Sie sprechen über die Legitimation des Diebstahls,
die Verbindlichkeit der Ordnung der Dinge. Sind die Regeln verbindlich für
alle? Der Kommissar, Vertreter der Moral, überzeugt Michel hier wie später
nicht. Nach erneuten Versuchen in der Metro, trifft Michel auf einen professionellen
Kollegen, der ihm alle Kniffe beibringt. Zusammen mit einem Dritten gehen sie
im Gare de Lyon auf Jagd. Weder für Jacques noch für Jeanne hat Michel
ein Interesse. Der Tod der Mutter löst bei ihm zum erstenmal ein wirkliches
Gefühl, Trauer, aus. Der Kommissar besucht ihn in seiner schäbigen
Dachkammer und teilt ihm mit, daß er genug Beweise gegen ihn in der Hand
habe, um ihn zu verhaften. Michel flieht nach Mailand, dann nach England. Bei
seiner Rückkehr findet er Jeanne mit einem Kind von Jacques vor. Sie lebt
allein, weil sie Jacques nicht liebte. Michel geht arbeiten, er hilft ihr. Auf
der Pferderennbahn von Longchamp zeigt ihm ein Mann seine Riesengewinne. Im
Moment, in dem Michel das Geld in der Hand hat, schnappen die Handschellen zu:
der andere war ein Inspektor. Michel wird inhaftiert. Ein Brief Jeannes öffnet
ihm die Augen über seine Liebe zu ihr. Als sie kommt, sagt er: »Welch
einen seltsamen Weg mußte ich nehmen, um zu Dir zu gelangen.«
Schrittweise
enthüllt der Film die Implikationen der Anfangsszene. Das Netz der Gefühle
und Phantasien, in die Michel verstrickt ist, seine Reaktionen, seine Rettungsversuche
werden klarer. Die Anfangsszene zeigte das Ritual, das Ergebnis seines Versuchs,
der weitere Film seine Situation, sein Sein. Auf seinem Zimmer wie unter Menschen:
er lebt in größter Einsamkeit. Sie ist für ihn die Bestätigung
seiner Überlegenheit. Er lebt nach eigenen Gesetzen. Alle anderen sind
seiner nicht würdig. Das Objekt aber, das alle anderen an Wert übersteigt,
ist die Mutter. Die Liebe zu ihr beherrscht seine Gefühle. Die Diebstahlsobjekte,
die er sich in der Einsamkeit jenes Rituals aneignet, sind Ersatz jener Beziehung.
Seine Einsamkeit verbindet sich mit einem Verlust von Wirklichkeit: er bemerkt
die Gefahr am Rennplatz nicht, er wird verhaftet. Diese Realitätsferne
steigert er am Schluß zur bewußten Opferung: er bemerkt die Schadenfreude
in den Augen des Inspektors, trotzdem versucht er diesen zu bestehlen. Er führt
sein Ende selbst herbei, letztes großes Aufflackern der Allmacht; schließlich
ist er selbst das Objekt, das in Besitz genommen wird. So bedeutungsvoll wie
die Errichtung einer eigenen, getrennten Welt ist die verletzende Kälte
Michels. Der unter dem Verlust der Liebe leidet, ruft Jacques und Jeanne höhnisch
Ratschläge über die Liebe nach. Als seine Mutter erkrankt, schreibt
Jeanne einen Zettel und legt ihn vor Michels Tür. Die Kamera, auf den Zettel
gerichtet, notiert Michels achtloses Darübergehen. Er nimmt von nichts
außerhalb seiner Welt Notiz. Schließlich bemerkt er den Zettel,
geht zur Mutter, die er tröstet. Dann ist er mit Jacques und Jeanne bei
der Beerdigung, er weint. Beide Ereignisse, der Brief und der Tod der Mutter,
machen nochmals die Identität und die Differenz der Perspektive des Films
und Michels deutlich. Identisch sind beide insofern, als der Film Michels magisches
Ritual, die Faszination durch die Objekte, die Errichtung einer eigenen, nicht
mit der »Realität« kongruenten Perspektive übernimmt.
Michel ist jedoch kein pathologischer Fall, alle Interpretationen des Films
unter diesem Aspekt verfehlen ihn.
Der
Film zeigt Michel von außen. Alle Bilder sind durchdrungen vom Gefühl
des Notwendigen, Unausweichlichen, das die Menschen treibt und die Sehnsüchte
zur Hinfälligkeit verurteilt. Das ist der Schmerz von PICKPOCKET, womit
er die Perspektive Michels übersteigt, indem er deren Grund benennt. Es
geht in PICKPOCKET nicht um ein moralisches Problem, um die Ordnung; die ambivalente
Figur des Kommissars ist marginal, sie verschwindet in den späteren Filmen
Bressons ganz. Es geht um einen Schuldzusammenhang, der auf allen lastet, alles
einzelne übersteigt. Daher das Gefühl der Vergeblichkeit - Jeannes
Brief und Michels Achtlosigkeit, das Trösten der Mutter und übergangslos
ihr Tod. In der höchst virtuosen Szene im Gare de Lyon, die ein vergleichbares
Gegenstück nur noch im Turnier aus Lancelot,
Ritter der Königin
hat, kommt das Thema des Films zu sich selbst, wird zur Form. In sehr kurzen
Einstellungen, fast Bildern, entsteht das brillante Zusammenspiel der drei Taschendiebe,
im Bahnhof, im Zug. In Großaufnahmen und kaum merklichen Fahrten verfolgt
die Kamera das Spiel der Hände, der Blicke. Michels Verbindung zur Außenwelt,
Hände und Blicke, Instrumente des magischen Rituals, verselbständigen
sich zu einer Welt, in der die anderen, die Bestohlenen, wie Statisterie dem
einsamen Akt der Beherrschung sprachlos beiwohnen. Das Thema ist restlos zur
Form selbst geworden, ihrer Reinheit, ihrer Unabhängigkeit von der Realität,
ihrer eisigen Klarheit. Nur sie scheint noch Rettung vor der Undurchschaubarkeit
der Realität, ihrer unauflösbaren Widersprüchlichkeit zu ermöglichen.
So macht die Sehnsucht den Versuch, sich in die Form zu flüchten. Aber
zugleich ist sie der Tod des Lebendigen, erstarrte Perfektion; es ist unmöglich,
darin zu bleiben. Diesen Konflikt, Grundtopos in Bressons Filmen, artikuliert
PICKPOCKET. Hinter der Virtuosität der Formen, der rituellen Wiederholung
gleicher Handlungen und gleicher Bilder, nur rhythmisch gegliedert von einem
durchdringenden Zugton, steht das Geheimnis des Rituals selbst: die Sehnsucht
nach der Überwindung des Schuldzusammenhangs in der Ersetzung des Wirklichen
durch die Form, des Individuums durch das Kollektiv, des Widersprüchlichen
durch die Regeln, die Überantwortung des Ichs in einem imaginären
Tauschvorgang. Hinter dem Ritual steht der Tod. Die Sinnlichkeit der Hände,
die Lust ist im Dienst des Unsinnlichen, der abstrakten Form. Michels Opfer
führt ihn mit Konsequenz an den gesellschaftlichen Ort der Schuld und Vernichtung,
das Gefängnis. Umso stärker der Bruch, das Durchbrechen der tödlichen
Konsequenz, der Moment der Reflexion. Daher die scheue und große Zärtlichkeit
der Bilder, welche die Erfüllung dessen andeuten, wonach Michel suchte:
der Liebe.
Stefan Schädler
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Robert Bresson; Band 15 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1978, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags.
Pickpocket
(Pickpocket)
Frankreich
1959
Regie,
Drehbuch: Robert Bresson. - Kamera: Léonce-Henry Burel. - Schnitt: Raymond
Lamy. - Musik: aus Werken von Jean-Baptiste Lulli. - Ton: Antoine Archimbaud.
- Szenenbild: Pierre Charbonnier. - Berater für Taschendieb-Tricks: Kassagi.
- Regieassistenz: Michel Clement, Claude Clement. - Darsteller: Martin Lassalle
(Michel), Pierre Leymarie (Jacques), Jean Pélégri (Inspektor),
Marika Green (Jeanne), Kassagi/Pierre Etaix (Taschendiebe), Dolly Scal (Michels
Mutter), Sophie Saint-Just. - Produktionsfirma: Agnès Delahaie Productions.
- Produktionsleitung: Annie Dorfmann. - Gedreht vom 22. 6. bis 10. 9. 1959 in
Paris und im Studio Saint-Maurice. - Format: 35 mm, sw. – Original-Länge:
2072 m = 75 min. 44 sec. – Deutsche Länge: 2101 m = 76 min. 47 sec. - Uraufführung:
16.12. 1959, Paris. – Deutsche Erstaufführung: November 1965. – im TV:
4.5.1964 (ZDF), 24.10.1973/31.3.1976 (BR III), 15.4. 1976
(HR III, S 3), 16. 11.1977
(WDR [II). - Verleih: Referat für Filmgeschichte (16 mm).
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