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Precious
- Das Leben ist kostbar
Mechanismen
der Elendsbeschreibung
Lee
Daniels’ Film "Precious" über eine fettleibige, missbrauchte
16-jährige Schwarze kommt seiner Hauptfigur erstaunlich nahe, lässt
aber auch nur ein Gefühl zu: Mitleid.
Harlem, 1987: Die 16 Jahre alte Claireece Precious Jones (Gabourey
Sidibe) ist schwarz, von enormem Leibesumfang, emotional zurückgezogen
und des Lesens kaum mächtig. Mit ihrer gehässigen und gewalttätigen
Mutter (Mo'Nique) lebt sie im Elend, ihr Vater hat sie jahrelang missbraucht,
sie nunmehr zum zweiten Mal geschwängert und darüber hinaus mit dem
HI-Virus angesteckt. In ihren Tagträumen, in der Regel zwischen zwei Hänseleien
oder Demütigungen, imaginiert sie sich als gefeierten Star und Gospelsängerin.
Bald rutscht sie in ein Erziehungssonderprogramm - Schularbeiterin, Lehrerin
und Sozialarbeiterin versuchen, einen Zugang zu dem Mädchen zu finden,
um sie aus der sozialen Verwahrlosung herauszuziehen.
Aus seinem überkonstruierten Schematismus macht "Precious
- Das Leben ist kostbar" in seiner unwahrscheinlichen Häufung biografischer
Katastrophen kaum einen Hehl: Die Mechanismen der Elendsbeschreibung klicken
reibungslos ineinander ein. Die Elendsporno-Karte ist deshalb schnell gezückt,
in den USA begleitete - angestachelt durch eine Brandkritik des Filmkritikers
Armond White - ein Streit in cinephilen Kreisen, ob es sich bei "Precious"
nur um eine Anhäufung krypto-rassistischer Klischees handele, den
Festival- und Kinohype des Films, der zuletzt so erfolgreich wie zwangsläufig
in zahlreiche Oscarnominierungen mündete. Auf der anderen Seite sind die
Apologeten längst versammelt, die "Precious" in naheliegendster
Verbalakrobatik als "Kostbarkeit" des aktuellen Filmbetriebs meist
schon deshalb bejubeln, weil Hauptdarstellerin Gabourey Sidibe darin selbstbewusst
zu ihrer Fettleibigkeit steht und der Film den Zuschauer mit festem Griff zu
dem beruhigenden Gefühl zwingt, zu den guten Menschen zu gehören.
Die Sache ist kompliziert. Zum einen, weil "Precious"
das Elend, das er schildert, gewiss nicht als Exploitation-Kino mit Arthouse-Deckmäntelchen
verkauft. Regisseur Lee Daniels traut seinem Publikum ganz ohne pathetische
Elendssuhlerei die Erkenntnis zu, dass Precious' Erfahrungen schreckliche sind.
Von der Warte des Para-Mainstreams betrachtet, den das auf Festivals zugeschnittene
US-Independentkino heute darstellt, funktioniert "Precious" erstaunlich
gut: wenn schon nicht als soziologische Analyse, so doch als subjektivierte
Annäherung an eine beschädigte Person, die sich zwar zaghaft emanzipiert,
dem Zuschauer schlussendlich aber fremd bleibt. Und Rassismusvorwürfe greifen
angesichts des sozial aufgefächerten, fast durchgängig schwarzen Ensembles
auch nicht so leicht.
Vorwerfen kann man dem Film allerdings, dass er dem Zuschauer
kaum Raum für Reflexionen lässt. Man soll, behutsam zwar, aber dennoch:
mitleiden, sich mit Precious empathisch gemein machen. Nicht, dass an Empathie
etwas grundsätzlich faul ist, doch entlässt einen "Precious",
als vor allem gut gemeinter Film, keinen Augenblick aus diesem Klammergriff,
es sei denn um den Preis, sich verdächtig zu machen. Daraus spricht eine
Konzeption des Kinos, die ihrerseits zumindest verdächtig ist: Kino als
Gefühlsmaschine, in der sich ein besser gestelltes Publikum (an das sich
"Precious" sehr unzweifelhaft richtet) im stillen Einvernehmen mit
der Produktion der eigenen Gefühlsbefähigung versichert, ohne soziale
Verbindlichkeiten eingehen zu müssen.
Kaum problematisiert wurde bislang ein vielleicht ganz entscheidender
Aspekt: Die Überindividualisierung des Leids. Dass Precious eine Art Mädchen
mit dem Streichholz ist, dem alles genommen und darüber allerdings die
Hoffnung gegeben wird, mag zwar der latenten Märchenlogik des Films geschuldet
sein. Zugleich macht dies aus ihr eine Art Schicksalsträgerin: Das sozial
bedingte Leid übersetzt sich in eine Art bürdenhaftes Martyrium. Im
"Finale" - für das Mo'Nique ihren Oscar als beste Nebendarstellerin
hauptsächlich erhalten haben dürfte - schimmert zwar kurz die Ahnung
auf, dass die Beschädigungen, die Precious angetan wurden, wiederum auf
Beschädigungen fußen, die der Mutter angetan wurden, dass Gewalt
und Elend sich also nicht schicksalhaft versammelt, sondern Strukturen folgt.
Doch gerade für diese Bruchstelle, an der es dann wirklich spannend werden
könnte, interessiert sich "Precious" viel zu wenig und kurz vor
Abspann auch viel zu spät.
Thomas
Groh
Dieser
Text ist zuerst erschienen in: www.perlentaucher.de
Precious
- Das Leben ist kostbar
USA
2009 - Originaltitel: Precious: Based on the Novel Push by Sapphire - Regie:
Lee Daniels - Darsteller: Gabourey Sidibe, Mo'Nique, Aunt Dot, Paula Patton,
Mariah Carey, Lenny Kravitz, Sherri Shepherd, Stephanie Andujar - FSK: ab 12
- Länge: 109 min. - Start: 25.3.2010
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