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Der
Prozess der Jeanne d'Arc
Nirgendwo
sonst hat Bresson so weitgehend von jeder Psychologie Abstand genommen, so weitgehend
vom Wort und einer Idee her seine Arbeit konzipiert wie im PROCÈS DE
JEANNE D'ARC, die Präsentation reiner Fakten mit deren genauem Gegenteil,
die Suche nach dem, was nicht evident ist, aufs Engste verbunden. Das Fiktive
entwickelt sich aus dem Dokumentarischen in zwei Perspektiven; durch die thematische
Konzentration und durch Verfremdung. Beides charakterisiert Bressons Stellung
zur Geschichte. PROCÈS DE JEANNE D'ARC ist historisch und spielt trotzdem
in der Jetztzeit. Grundlage sind die Protokolle jenes Prozesses, der zwischen
dem 21. Februar und dem 30. Mai 1431 stattfand. Aus ihnen entnahm Bresson den
Dialog, wobei er gerade jene Stellen auswählte, die sich auf die Person
der Jeanne (Florence Carrez) selbst beziehen. Von Interesse sind weniger die
Hintergründe der politischen Ereignisse, der Machtkonstellationen, der
Parteien und Programme. Vielmehr untersucht der Film den exemplarischen Charakter
des Verhaltens der jungen Frau. Jeanne hat, indem sie ihrer Wahrheit folgte,
mit allen herrschenden Interessen, mit jeder etablierten Macht gebrochen, ohne
Exponentin einer neuen zu sein. Jeanne steht der Macht gegenüber, repräsentiert
in dem Bischof Cauchon (Jean-Claude Fourneau) und Warwick (Richard Pratt), dem
englischen Oberbefehlshaber. Schließlich steht sie gegen die Moral: ihre
Weigerung, Frauenkleider zu tragen, macht sie, wie Warwick sagt, für jeden
Mann der Welt unangreifbar. Daß sie als Frau nicht nur politisches Geschehen
lenkt, ein Heer anführt, sondern mit dem, was sie als richtig erkannt hat,
Theologen und Politikern, Dogmatikern und Rechtsexperten die Stirn bietet und
ihre Einsicht und Praxis verteidigt, stellt sie außerhalb des Rechts,
der Ordnung, der Gnade der Kirche.
Bereits
in einer der Anfangssequenzen ertönt im Hof der Schrei: »Verbrennt
die Hexe!« Jeanne ist keine politische Kämpferin; das Untragbare,
welches sie verkörpert, das Unerhörte, ist ihre Sicherheit, ihr Handeln,
das sie nicht aus Überzeugungen schöpft, sondern aus ihrem Erleben.
Anstößig sind nicht ihre Lehren, Erklärungen, sondern ihr Sein.
Weil sie sich von diesem leiten läßt, steht sie außerhalb der
Ordnung, die auf der Unterordnung der Menschen unter Erklärungen, Programme
Normen beruht. Die Welt der Funktionen, der Zuordnungen zerstört die Erfahrungen,
die Aneignung, schließlich die Sinne selbst. Das Leben ist ein Tauschvorgang:
das Fortbestehen der Existenz, die Sicherheit wird getauscht gegen den Verzicht
auf die Autonomie eigenen Denkens, auf unzensierte Phantasie. Geduldet wird,
was mit der Ebene der Funktionellen, der Strategien einen gemeinsamen Nenner
bildet. Jeanne, eine frühe Vorläuferin derer, die später als
Schizophrene kaserniert werden, erfährt die Gewalt jenes Tausches unmittelbar.
Schwört sie ab, läßt man ihr das Leben (vielleicht), so hat
sie sich aufgegeben. Beharrt sie auf ihren Sinnen, auf ihrem Erleben, ihrer
Wahrheit, stellt sie sich gegen das Dogma, so wird ihre Erfahrung zerstört,
ihr Körper. Was hier gegeneinandersteht, ist die Zivilisation der Schrift,
von der Herrschaft unablösbar, und die Erfahrung der Sinne, der Körper.
Der von oben herabschauende Blick der Wissenden und der abgewendete, suchende
und unsichere Jeannes. Jeanne ist das Opfer jenes Zusammenhangs von Schrift,
Herrschaft und Staat, wie ihn die Soziologie aufgedeckt hat. Gigantisch überragt
der verkohlte Pfahl, an dem Jeanne verbrannt wurde, den sterblichen Leib als
eine Hieroglyphe, ein Zeichen der Gewalt, ewig, wie das Urteil, das über
sie erging. Wie im TAGEBUCH
EINES LANDPFARRERS
das Kreuz, so bleibt hier dieser Marterpfahl, ein mythischer Fetisch, ein Totem,
lange auf der Leinwand stehen. Der Film hält an; dieses Zeichen der Herrschaft
vernichtet die bewegten Bilder und übersteigt sie. Hat der Film nicht selbst,
das cinéma, als
Fetisch, als abgeschlossenes Reich »schöner«, dramatischer,
geordneter Bilder und Töne Teil an der Welt jener mythischen Zeichen, die
sich unantastbar und selbständig über den Sinnen, dem Körper
erheben. Ist das Kino Sprache der Phantasie oder nicht vielmehr von deren Einschränkung
und Verwaltung? Das Netz derartiger Zusammenhänge, das über diesem
Film liegt, verleiht ihm jene Aktualität, die Bresson ihm zu geben wünschte.
Jedoch etabliert sich die Herrschaft des Zeichens, der Gewalt, nicht total.
Die letzten Sequenzen des Films enthalten Spuren von dem, was in der Herrschaft
der Gesetze, des Allgemeinen, nicht aufgeht. Jeannes Hinrichtung wird von zwei
kurzen Szenen kontrastiert, welche in der Logik der Ereignisse nicht aufgehen,
von der gängigen Kritik üblicherweise als »Symbole« der
»Transzendenz« mißverstanden wurden. Auf dem Weg zum Scheiterhaufen
folgt Jeanne ein Hund, zutraulich trottet er hinterher. Als die Flammen bereits
brennen, Jeanne vom Rauch langsam eingehüllt wird, zeigt eine Einstellung
in einem extremen Winkel von unten aufgenommen zwei Vögel über der
Richtertribüne, fast unkenntlich, rätselhaft. Schließlich: wenn
jenes Machtzeichen das Bild beherrscht, zeichnet sich, wie eine Federzeichnung,
eine Baumkrone hinter diesem ab. Es sind Bilder und Andeutungen von Lebendigem,
sprachlosem Leben, das ein Residuum der Hoffnung sein könnte. Das Leben,
das weitergeht, kommentierte Bresson in einem Interview -; aber trotzdem ist
dieses Leben, die Natur, durch nichts garantiert, die Folgen der Gewalt, die
Zerstörung und der Tod bleiben bestehen. Für sich genommen sind jene
Bilder Ideologie; Bestand haben sie nur in ihrer Fremdheit, ihrer Abweichung
von der Logik. Das Verhalten des Films zu den Dokumenten, die ihm zugrunde liegen,
wird durch Auswahl und Verfremdung bestimmt. Sie behandeln das, wodurch Jeanne
abweicht, unverständlich wirkt, »jene seltsame Atmosphäre, die
sie umgibt«, wie Bresson sagte. Die Verfremdung, die vom Material selbst
ausgeht, wird zusätzlich während des ganzen Films durch parzellierende
Einstellungen und die trockene, jede Dramatisierung vermeidende epische Erzählweise
verstärkt. Neben der Aufgabe der scheinbaren Geschlossenheit der Realität,
die einem illusionären generalisierten intelligiblen Erzähler-Ich
entspräche, ist die Einführung der Perspektive des empirischen und
ungeschützten Ichs der zweite Aspekt von Bressons Realismus. Seine Filme
gleichen experimentellen Studien über den Kampf von Menschen um Bewußtsein,
Glück und Schönheit. Sie sind Verhaltensstudien. Mit PROCÈS
DE JEANNE D'ARC ist Bresson Brecht, der dem gleichen Stoff mehrere Versuche
widmete, so nahe gekommen wie nirgends sonst.
Schon
bevor der Vorspann uns über den Verlauf des Films, seine Quellen belehrt,
nimmt die Einleitungssequenz das Ende, ohnehin schon jedem bekannt, vorweg;
demonstriert sie unmißverständlich die Macht, die herausgefordert
wurde. Wir sehen die Füße von drei Menschen über einen Kirchenboden
gehen (die Sequenz wurde in Notre-Dame gedreht), geführt von der auf den
Boden gerichteten Kamera; sie zieht zurück, wir sehen den Rücken einer
Frau, die vor der erhabenen Geistlichkeit kniet. Es ist Jeannes Mutter; sie
liest den Antrag auf Rehabilitation ihrer Tochter vor, in dem sie die Ereignisse
zusammenfaßt und die Prozeßbeteiligten der Lüge und des wissentlichen
Fehlurteils beschuldigt. Diese Szene fand 25 Jahre nach dem Tod Jeannes statt.
Dann erst kommen die Titel, begleitet von harten, gewissermaßen vernichtenden
Trommelschlägen. Damit ist die Atmosphäre des Films gegeben: Monotonie,
eine vernichtend gleichförmige Rhythmik durch das Frage und Antwortspiel,
eine strenge und fast begriffliche Objektivität. Wir sehen zuerst Jeannes
gefesselte Hände, dann sie selbst, den Eid schwörend, schließlich
beginnt die Befragung. Sie determiniert die Bilder vollständig. Frage und
Antwort entsprechen Schuß und Gegenschuß; Jeanne und die Geistlichen
werden bis zum Ende des Films in unterschiedlichen Einstellungen gefilmt; die
ratsuchenden Blicke, die Jeanne mit ihrem Beichtvater wechselt, wieder in einer
anderen Einstellungsart. Die analytische Trennung der Einstellungsarten durch
den Schnitt erzeugt jene kalte, rituelle Monotonie, die das Gegenstück
zur Gewißheit Jeannes ist, aber auch zu ihren Zweifeln und ihrer Angst,
ihrem Erleben also. Das Ritual setzt sich in größeren Einheiten fort:
im Wechsel der Szenen vor dem Tribunal und denen in der Zelle Jeannes. Auch
dort, wo die Verhöre fortgesetzt werden, wo man Jeanne zu überreden
und zu bestechen versucht, wo die Gewalt unmittelbar wird, wiederholen sich
solche Einstellungen. Zusätzlich zu der strengen Komposition der Bilder
kommen hier noch die Blicke durch Löcher in der Wand, halboffene Türen,
Treppen, die in Jeannes Zelle hinabführen. Das alles schließt sich
zu einer bedrohlichen unabänderlichen Dynamik zusammen, zu einer rationalisierten
Folter, die Jeanne zur Aufgabe ihrer Identität treibt: sie widerruft, angesichts
der versammelten Machthaber.
Stärker
als alle anderen Filme Bressons ist PROCÈS DE JEANNE D'ARC von der Idee
her konzipiert. Alle Mittel dienen deren Realisierung, was besonders die Konstruktion
des Raumes und der Zeit betrifft. Daß die Thesen dem Raum einbeschrieben
werden, die Verwaltung des Raumes durch die Macht wurde schon erwähnt.
Ebenso notiert der Zeitverlauf das für das Geschehen entscheidende Verhalten,
die Worte, Gesten, die aufeinandertreffen, nicht aber ihre psychologische Entstehung.
Zeit hat keine dramatische Funktion (suspense),
sondern ist der Index des Verhaltens. Ebenso wie die Struktur des Raumes dient
die der Zeit zur Konzentration auf die Bedeutungen jenseits der unmittelbaren
Oberfläche der Realität. Auch der Suspensefilm hat eine vom Verlauf
der Alltagszeit unterschiedene Zeitstruktur; sie folgt den Gesetzen des dramatischen
Aufbaus. Bressons betont nicht-realistische Zeitdramaturgie aber kehrt diesen
Unterschied nach außen.
Nur
einmal nähert sich der Zeitverlauf des Films dem realistischen: in der
Sequenz von Jeannes Widerruf. Denn hier stehen sich keine definitiv abgrenzbaren
Positionen gegenüber. Die Drohung der langsam verlesenen Anklageschrift
macht Jeannes Ohnmacht gegenüber der Schrift deutlich, innerhalb deren
sich ihre Worte automatisch gegen sie wenden. Ihrer Unsicherheit und Angst entspricht
der verlangsamte Zeitverlauf des Films. Erst die Vollstreckung des Urteils,
nach Jeannes Rücknahme des Widerrufs, nimmt den ersten Zeitverlauf, womöglich
noch rapider, wieder auf.
Film
ist nach Bresson écriture:
Schrift mit Bildern und Tönen. PROCÈS DE JEANNE D'ARC thematisiert
die Gewalt der Schrift, in der sich die Worte verkehren. Der kumulative Charakter
der Schrift, die sich zeitlos, linear und rational in der Logik des Tausches
etabliert. Durch die Struktur, Einstellungen, Schnitt, Konzeption von Raum und
Zeit, ist dieser Film aber selbst Schrift: die Worte, Ideen, von denen er her
konzipiert ist, sind ihr Inhalt. Seine formalen Elemente, eben Bilder und Töne,
sind die Zeichen der Gedanken, des Bewußtseins, der Sinne. Aber sie sind
nur als Zeichen repräsentiert, nur noch als solche zugelassen. In ihrer
Kargheit und ihren Reduktionen gleicht sich Bressons Filmschrift jener Schrift
an, in der das Unmittelbare und Ungewisse ausgelöscht wird zugunsten des
Zeichens, des Fixierten, des Wissens: der Gesetze als letzter Rettung.
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Robert Bresson; Band 15 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1978, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags.
Der
Prozeß der Jeanne d'Arc
PROCÈS
DE JEANNE D'ARC
Frankreich
1961
Regie
und Drehbuch: Robert Bresson, nach den Akten des Prozesses von 1431 und des
Wiederaufnahmeverfahrens von 1456. - Kamera: Léonce-Henry Burel. - Schnitt:
Germaine Artus. - Musik: Francis Seyrig. - Ton: Antoine Archimbaud. - Szenenbild:
Pierre Charbonnier. - Kostüme: Lucilla Mussini. - Regieassistenz: Serge
Roullet. - Darsteller: Florence Carrez (Jeanne), Jean-Claude Fourneau (Pierre
Cauchon, Bischof von Beauvais), Marc Jacquier (Inquisitor), Roger Honorat (Magister
Jean Beaupère), Philippe Dreux (Bruder Martin Ladvenu), Jean Gillibert
(Jean de Chatillon), André Régnier (d'Estivet), Michel Hérubel
(Bruder Isambert de la Pierre), Marcel Darbaud (Nicolas de Houppeville), Richard
Pratt (Warwick), Michael Williams (englischer Edelmann), Harry Sommers (Kardinalbischof
von Winchester), Donald O'Brien (englischer Priester), Gérard Zingg (Jean
Lohier), André Maurice (Tiphaine), Paul-Robert Nimet (Guillaume Érard),
Yves Leprince (Pierre Morice), André Brunet (Jean Massieu), Pierre Duboucheron/Henri
Collin-Delavaud (Bischöfe), Vernon Thompson/Claude Peronne/Guy-Louis Duboucheron/Alain
Blasy/Eric Siroux (Beisitzer), Jean Collombier/Pierre Gauthier (Bischofsekretäre),
Jean Payen/Nicolas Bang (Wächter). - Produktion: Agnès Delahaie
Productions. - Produktionsleitung: Leon Sanz. - Gedreht vom 17.7. bis 15.9.1961
in den Schloßanlagen und im Observatorium von Meudon. - Format: 35 mm,
schwarzweiß. – Original-Länge: 1715 m = 62 min. 41 sec. – Deutsche
Länge: 1755 m = 64 min. 8 sec. - Uraufführung: 10.4.1962, Paris. –
Deutsche Erstaufführung: 24.1.1969. - TV: 1.11.1965 (ZDF), 12. 4.1974 (BR
III), 23.11. 1977 (WDR III). - Verleih: Imbild (16 mm).
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