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Public
Enemy No. 1 – Mordinstinkt
Am
2.
November 1979 wird Jacques Mesrine
von einem Kommando der Polizei in Paris auf offener Straße erschossen,
besser gesagt: hingerichtet. Mesrine ist nicht irgendjemand, sondern der meistgesuchte
Verbrecher Frankreichs. Er ist 42 Jahre alt und hat eine ungewöhnliche
kriminelle Karriere als Mörder, Bankräuber, Entführer und Ausbrecherkönig
auf zwei Kontinenten hinter sich. Der großspurige und selbstbewusste Mesrine
verfasste 1977 im Gefängnis seine Autobiografie „Der Todestrieb“, in der
er sich zu 39 Verbrechen bekannte. Das Buch und sein Selbstdarstellungsdrang
machten Mesrine zu einer Art Popstar, die Autobiografie wurde auch in Deutschland
zu einem Kultbuch. Nimmt man es heute wieder zur Hand, staunt man über
die triviale Mischung aus Nietzscheanismus, anarchistischen Brosamen, Harte-Männer-Posen
und lakonischer Küchenpsychologie. Um
es mit Patti Smith zu sagen: „Outside the society that’s where I wanna be!“ Aber bitteschön
immer mit „attitude“: „Was sah ich? Müde, traurige Gesichter; ich sah Menschen,
die eine mies bezahlte Arbeit fertig machte; Menschen, die auf diese Arbeit
angewiesen waren, um wenigstens genug zum Überleben zu haben; Menschen,
die auf ewig zur Mittelmäßigkeit verdammt waren (...) Diese Menschen
kennen ihre Zukunft, denn sie haben keine. Sie funktionieren wie Roboter; sie
gehorchen den herrschenden Gesetzen mehr aus Angst als aus wirklicher Überzeugung.
Sie sind unterworfen und besiegt; schon wenn der Wecker morgens klingelt, sind
sie Sklaven. Wohl oder übel gehörte ich auch zu diesen Menschen, aber
ich fühlte mich nicht dazugehörig. Ich wollte nicht alles so hinnehmen.
Ich wollte nicht, dass mein Leben so vorherbestimmt oder von anderen verplant
sein würde (...) Zeit gewinnen, Zeit verlieren ... Was ich wollte, das
war ganz einfach, ,Zeit haben zu leben‘.“ Leider geht dem Film dieser bohemistisch-anarchistische
Tonfall völlig ab, dafür gibt es reichlich „Action“.
Natürlich ist die Biografie Mesrines
eine Steilvorlage, um sich in Frankreich einmal mehr des knallharten „film policier“-Genres
zu erinnern. Während Filme wie „36 tödliche Rivalen“ (fd 37 760),
„Die City-Krieger“ oder „Le deuxième souffle“ hierzulande eher auf Festivals
denn im regulären Kinoprogramm laufen, erleben Filme in der Tradition von
Jean-Pierre Melville, Pierre Granier-Deferre, Alain Corneau oder José
Giovanni jenseits des Rheins derzeit eine Blüte. „Public Enemy No.1“ könnte
also eine Hommage an die Klassiker des Genres sein – und zugleich ein galliger
Kommentar über die Wechselwirkung mythologisierender Gangster-Darstellungen
im Kino und die folgende Selbststilisierung der Gangster im wahren Leben (wie
sie etwa Roberto Saviano in „Gomorrha“, fd 38 892, beschrieben hat). Doch dazu
fehlen den Stilisierungen die Konsequenz und die innere Logik. So enttäuscht
der mit 246 Minuten überlange Kino-Zweiteiler „Public Enemy No.1“ trotz
Starbesetzung und einer wahren Ausstattungsorgie auf ganzer Linie, weil das
Biopic von Jean-François Richet sich kaum für das geheime Zentrum
des Stoffes, die Figurenpsychologie Mesrines, interessiert. Trotz der Möglichkeit,
die Autobiografie des Gewohnheitskriminellen psychologisch zu nutzen (und so
vielleicht auch den Mythos Mesrine zu decouvrieren), wird die kriminelle Karriere
grobschlächtig nach der Dramaturgie des chronologischen „Dann-und-dann-und-dann“
abgehakt. Der erste Teil, „Mordinstinkt“, beginnt mit dem Algerienkrieg, zeigt
die Lustlosigkeit Mesrines, danach ins kleinbürgerliche Leben zurückzukehren,
und wie er zufällig Kontakte in die Unterwelt knüpft, den ersten Mord
und die große Liebe mit Familiengründung, die den Outlaw nicht auf
den Pfad der Tugend zurückbringt. Mesrine ist ein Verbrecher aus innerster
Überzeugung, weshalb der Film in der Folge auch so aussieht: Banküberfall,
Flucht, Schießerei, Flucht, Verhaftung, Gefängnis, Ausbruch, Banküberfall,
Schießerei, Flucht – eine Abfolge, die dem Gangstertum wider Willen auch
noch seinen Glamour nimmt, weil sich der Alltag des Gangsters kaum von der Gleichförmigkeit
eines „9 to 5“-Jobs unterscheiden lässt. Als Mesrine gemeinsam mit seiner
Komplizin Jeanne Schneider das Blatt überreizt, geht es weiter nach Kanada,
wo er nach einer gescheiterten Entführung in einem modernen Hochsicherheitsgefängnis
landet, in dem er wochenlang brutalster Isolationshaft ausgesetzt ist. Doch
auch daraus gelingt ihm die Flucht. Zusammen mit seinem Kumpel Jean-Paul kehrt
er noch einmal zurück, um in einem blutigen Handstreich einige andere Häftlinge
zu befreien.
„Todestrieb“, der zweite Teil des Biopic,
erzählt davon, wie Mesrine nach seiner Rückkehr in Frankreich zum
„Staatsfeind Nummer Eins“ aufstieg. Zwar setzt der Film auch hier seine ermüdende
Abfolge von Überfall, Schießerei, Flucht, Verhaftung, Verurteilung,
Ausbruch fort, aber es mischen sich Momente von „public relations“ ins Geschäft.
In den 1970er-Jahren mit ihrem politischen Terrorismus finden auch „normale“
Kriminelle ihre Öffentlichkeit: Mesrines Autobiografie ist davon nur der
schönste Ausdruck. Sein Geltungsbedürfnis sucht den Dialog mit der
Gesellschaft. Mesrine gibt Interviews, kommentiert seine Aktionen und wird mit
seiner Chuzpe populär. Doch einen genuinen Rhythmus findet der Film auch
im zweiten Teil nicht; unentschlossen changiert Richet zwischen Verdichtung
von Zeit und geradezu minutiöser Rekonstruktion bestimmter Ereignisse,
die wie ein Spiel auf Zeit anmuten, wenn der Anfang des ersten Teils im zweiten
Teil noch einmal gedehnt wiederholt wird. Auch lässt der Film jedes Interesse
an der politischen Dimension des Falles Mesrine vermissen. Mag sein, dass er
in Frankreich auf ein kollektives Wissen bauen kann, doch jenseits des Rheins
bleibt Mesrines Handeln – etwa die brutale Bestrafung des rechten Journalisten
Jacques Tillier – bisweilen unverständlich. Die abschließende Hinrichtung
des Gangsters erscheint – wie bei Melville – als Resultat einer Auseinandersetzung
unter Männern, zwischen Mesrine und dem zuständigen Kommissar Broussard.
Stichwort „Unter Männern“: Der Womanizer Mesrine versichert sich immer
wieder der Unterstützung weiblicher Komplizinnen, misshandelt aber seine
Frau, wenn diese ihn aus den Armen des Verbrechens zu retten versucht.
Das prinzipielle Problem des Films ist
mit dem von „Der
Baader Meinhof Komplex“
(fd 38 920) vergleichbar: Es werden mit Authentizitätsanspruch Dokumente
und Wochenschauen nachgestellt, aber es wird keine eigene Haltung zum Geschehen
riskiert. Selbst die „philosophischen“ Reflexionen Mesrines sucht man hier vergeblich,
bestenfalls werden Selbstreflexionen sentenzenhaft und unvermittelt in Dialog
überführt. So wurde aus dem hochinteressanten Stoff ein trotz drastischer
Gewaltdarstellungen doch ziemlich konventioneller Actionfilm mit einigen lustigen
„Fantomas“-Verkleidungsmomenten – insgesamt viel zu wenig für vier lange
Stunden im Kino. Wenn es im Vorspann heißt: „Kein Film kann die Komplexität
eines Menschenlebens abbilden“, scheint sich der Film für das Folgende
im Voraus beim Zuschauer entschuldigen zu wollen.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Public
Enemy No. 1 - Mordinstinkt
Frankreich / Kanada / Italien 2008 - Originaltitel: Mesrine : L'instinct de Mort - Regie: Jean-François Richet - Darsteller: Vincent Cassel, Cécile De France, Gérard Depardieu, Roy Dupuis, Gilles Lellouche, Elena Anaya - Länge: 114 min. - Start: 23.4.2009
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