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Pusher II: Respect
Beschädigte Schädel
Verstricktes
Handeln und Affekt-Ereignisse in Nicolas Winding Refns "Pusher II"
Ein Däne
sagt: Ich krieg Geld von dir
Du lachst ihn
aus: Warum grad von mir?
Doch sein Ballermann
überzeugt dich schlicht
Und du erkennst:
Dänen lügen nicht
Otto Waalkes: Dänen
lügen nicht
(gesungen zur Melodie
von Michael Holms "Tränen lügen nicht")
Um die Mitte des
Films sitzt Tonny, der Protagonist, im vordersten Waggon einer Kopenhagener
Schnellbahn vor dem Fenster, das den Blick in Fahrtrichtung freigibt. Zu sehen
ist sein Gesicht im Profil, wie es ins Nichts hinunter stiert, dahinter die
Tunnelröhre, durch die wir rasen, zu hören Sonic Youth-artiger Instrumentalrock.
Mit einem kleinen aber merklichen Zeitsprung, der Tonnys Kopfdrehung vom Ins-Nichts-Stieren
in die Fahrtrichtung phrasiert, erfolgt, direkt zu einem aufwallenden Akkordwechsel,
ein jäher Schnitt vom grünstichigen Dunkel des Tunnels ins gleißende
Sonnenlicht der Weiterfahrt im Freien.
Diese tolle Bildfolge
verdichtet wesentliche Elemente und Dynamiken von "Pusher II". Licht
fällt auf einen Kopf, der sich dreht, einer unmöglichen Flucht entgegen.
Dass ein Moment, in dem ein solches Nichts geschieht, in solch affektiver Ereignishaftigkeit
hervortreten kann, liegt daran, dass in "Pusher II" das Handeln von
Figuren – der bevorzugte Geschehensmotor von Gangster- und anderen Milieufilmen
– auf eigentümliche Weise blockiert oder suspendiert ist. Tonny tut fast
nichts, zumindest gelingt ihm nichts. Es geht um ein Scheitern, das nichts Tragisch-Heroisches
hat, sondern als lapidares Misslingen ins Bild kommt: Exemplarisch dafür
ist – in einer Szene, in der das Misslingen einen anderen Gangster erwischt
– das soeben aus dem Autohaus gestohlene Auto, das im Bildhintergrund staubtrocken
von einem zufällig aus dem Nichts in die Szene fahrenden anderen Wagen
gerammt wird; der Sidekick, den Tonny in "Pusher", dem Auftakt der
Trilogie, beim Warten auf einen Drogendeal probiert, um seinen Kumpel Franke
zu beeindrucken, und bei dem er sich prompt den Fuß verrenkt; oder der
Sex mit zwei Frauen inklusive Blasen, auf den hin Franke Tonny in "Pusher"
angesprochen hat, und den Tonny nach seiner Haftentlassung am Beginn von "Pusher
II" praktizieren will, was in einer so gnadenlos banalen wie im Detail
diabolischen Serie von Erotisierungspannen zwischen dem impotenten Gratiskunden,
zwei Prostituierten und einem Pornovideomonitor im Bordell endet. Später
im Film, beim Warten auf einen weiteren Deal, säuft Tonny gierig die Schnapsstiftchen
in der Minibar aus, während sein Seniorpartner Kurt auf dem Klo scheißt
– darin besteht das kriminelle Tun der "Täter"; kurz darauf verschwindet
das soeben teuer gekaufte Heroin der beiden in diesem Klo, weil Tonny ein beiläufiges
Klopfen an der Tür in voreiliger Gschaftigkeit für eine Razzia hält.
Tonny will so vieles
gut machen; da ihm das misslingt, muss er so vieles gutmachen. Meist geht es
darum, Autoritäten zu beeindrucken: den Lieblingskollegen seines Gangstervaters
etwa, der vom unversehens zum Vater gewordenen Tonny lernen will, wie man ein
Baby wickelt, um demnächst, so sagt er, seinerseits seiner schwangeren
Frau imponieren zu können. Tonny wickelt sein Söhnlein und nimmt dann
kurz eine jener Selbstüberschätzungsposen ein ("Ich kann einfach
alles!"), die er in "Pusher" bis zum Verdruss kultiviert hat
und die ihm in "Pusher II" gänzlich abhanden kommen. Mit dem
Wickeln gelingt ihm, was er sonst auf Umwegen versucht, nämlich die unmögliche
Rolle des Vaters zu erfüllen: Er versucht dies, indem er etwa bei der Hochzeitsparty
besoffen und bekokst sein Baby an sich nimmt, um dessen fröhlich koksender
Mutter Charlotte Vorwürfe zu machen und sie dann zu attackieren; sein tobsüchtiger
Mordversuch misslingt ihm ebenso wie sein Ansinnen, mit dieser Verschiebung
von Aggression auf Demütigungen durch seinen Vater zu reagieren. In derselben
Nacht geht Tonny im Bemühen um Vaters Respekt und im Ausfüllen der
Vater-Rolle durch Gewalt gegen eine Mutter noch weiter: Er bietet seinem Vater
an, die Mutter von dessen kleinem Sohn zu beseitigen, die Mutter seines Halbbruders
also. Tonnys eigene Mutter ist während seiner Haftzeit verstorben, was
sowohl während des Babywickelns als auch während des Angebotsdialogs
mit dem Vater zur Sprache gekommen ist. Erfahren hat Tonny vom Tod seiner Mutter
von deren Nachmieterin über eine Gegensprechanlage jener Sozialwohnsiedlung,
zu der er mit der Schnellbahn durch den Tunnel ins Licht gefahren ist.
Der Versuch, in
die Mutterbindung zurück zu flüchten, misslingt Tonny noch mehr als
er dem (noch höher verschuldeten) Franke in "Pusher" misslungen
ist. Tonny ist ungebunden. In Teil 1 wollte er diese Eigenschaft im Modus der
Coolness ausstellen, markierte immer wieder den Streetfighter, scheiterte an
seinem Ungeschick und wirkte dabei lächerlich. In Teil 2 liegt seine Jämmerlichkeit,
an der nun das Bemitleidenswerte stärker hervortritt, darin, dass der in
Knast und Unwürde gealterte Tonny in die Familie und Autoschieber-Gang
seines Vaters eingebunden sein will und nicht wahrzuhaben vermag, wie wenig
er willkommen ist; so etwa wenn er von der Diebestour als einziger im Bus heimfahren
muss, während die Gang im Wagen sitzt, oder wenn sein Vater in einer Hochzeitsrede
Tonny bloßstellt und zugleich dessen besten Freund als seinen Sohn annimmt.
Der einzige, der Tonny als "Freund" anspricht, ist Milo, der Dealer
und Meister subtiler rhetorischer Drohgebärden, der schon in Teil 1 Franke
notorischerweise seinen Freund genannt hat (mit Folgen bis zur Folter und jedenfalls
jenseits aller Freundschaftsbindungen). Was schon für Franke galt, gilt
auch für Tonny: Je ungebundener er ist, desto mehr ist er verstrickt –
ins Begehren, seinem Vater oder Seniorpartner zu imponieren und in der Gang
jemand zu sein, in Schulden, aus denen sich neue Schulden potenzieren, in Pannen,
die auf verschlungenen Bahnen gravierendere nach sich ziehen. Zum Beispiel:
Auf Tonnys Ruf hin schüttet Kurt das gekaufte Heroin ins Klo; also tauscht
Tonny Kurts Goldkette gegen eine Pistole; die dient allerdings nicht dazu, um
sich etwa von den Dealern das Heroin-Geld zurückzuholen, sondern um den
Financier von Kurts Deal durch einen fingierten Raub zu täuschen; also
schießt Tonny Kurt in den Arm und hilft ihm, zwecks Vortäuschung
eines Einbruchs dessen Wohnung zu verwüsten, wobei auch eine Prostituierte
halbtot geschlagen wird; als Tonny klar wird, dass just sein Vater der Gläubiger
des untergetauchten Kurt ist und dass dessen Schulden nun auf ihn selbst übergegangen
sind, geht er so weit, dem Vater das schon erwähnte Kompensationsgeschäft
vorzuschlagen.
Diese Abfolge von
Tauschakten und Verschiebungen – die mit dem Offert an den Vater noch lange
nicht zu Ende ist und bei der jeder Versuch, es dem Vater recht zu machen, die
Verletzung einer Frau beinhaltet – zeigt, wie sehr sich individuelle Handlungsintentionen
im unüberschaubaren Beziehungsnetz verfangen oder im eigendynamischen Wuchern
von Plänen umgelenkt werden. Ein Däne sagt: Ich krieg Geld von dir.
Die komplexe Verstricktheit – zumal in Ermangelung unproblematischer Bindungen
– lässt "Pusher II" vielleicht als einen Milieu-Film erscheinen,
als Gangsterfilm, in dem eine informelle, planlose, deregulierte Ökonomie
(Dealen, Diebstahl, galoppierende Verschuldung) die Dinge am Laufen hält,
und in dem die Umgebung sich massiv an den Figuren niederschlägt (oder
sie niederschlägt). Im Licht der Bahnfahrt, das ins Bild knallt und in
Tonnys Gesicht fällt, könnten wir die ebenso materielle wie imaginäre
Prägung des seiner Lebensbahn folgenden Individuums durch die Medialität
des Milieus erblicken.
Wir könnten
uns angesichts der "Pusher"-Filme im weiteren milieukritisch und mit
Hamlet fragen, ob etwas faul ist im Staate Dänemark. Aber das wäre
wohl ein Missverständnis, so wie jenes wortspielerische Missverständnis,
das bei Shakespeare (oder vor allem in der Schlegelschen Übersetzung) kurzschlussartig
das Land Dänemark als Grund für den Wahnsinn eines Bewohners erscheinen
lässt: Auf die Frage "Kennt ihr den Grund?" – den Grund nämlich
dafür, dass der junge Hamlet "den Verstand verlor" – antwortet
der Erste Totengräber: "Freilich, dänischer Grund und Boden."
So ließen sich also Raserei und Melancholie der Pusher-Figuren in territorialisierender
Geste auf den Grund eines Landes (eines fauligen Staates, einer Stadt, eines
Szene-Biotops, einer lokalen [Sub-]Kultur...) zurückführen. Ergiebiger
als Erkenntnisoptik ist allerdings der unmittelbar nachfolgende Momente bei
Shakespeare, in dem Hamlet seine große Nummer abzieht: Das Sinnieren über
einem Totenschädel, es taucht in versetzter Form in "Pusher"
auf, wenn Franke in einem raren Glücksmoment vor seiner Nicht-Freundin
zu einer Metal-Nummer Luftgitarre spielt und dabei einen dekorativen Totenkopf
hoch hält.
Wie Teil 1 ist auch
"Pusher II" – ungeachtet seines gängigen Zusatztitels "With
Blood On My Hands" – vor allem ein Kopf-Film. "Respect" lautet
ein zweiter Zusatztitel des Films, und das ist das Wort, das Tonny unübersehbar
hinten auf seinem kahlen Schädel tätowiert trägt. Es geht um
Respect: Alles steht auf dem Kopf. Blut haben die Pusher weniger an ihren Händen,
als auf dem Kopf: Franke kommt in Teil 1 mit Tonnys Blut im Gesicht aus der
Bar, in der er seinen Kumpel halb tot geprügelt hat; Tonny erzählt
in Teil 2 der Mutter seines Sohnes, die ihn auf die "Riesennarbe"
auf seiner "Birne" anspricht, "Mein Kopf hatte ein Date mit `nem
Baseballschläger" und ergänzt, auf ihre halb besorgte, halb spöttische
Frage nach vererbbaren Hirnschäden, dass er sich seitdem "nicht mehr
so viel merken" könne. In einer späteren Szene, während
der Hochzeitsparty, wird Tonny sich seinen wenig merkfähigen Kopf grüblerisch
mit Hand und Billardstock reiben und die als Befreiungsschlag gedachte Idee
gebären, im Namen des Vaters (seines und seiner Vaterrolle) die Mutter
seines Sohnes zu attackieren.
Der beschädigte
Schädel und seine ohnmächtigen Wutausbrüche verweisen uns aus
Dänemark heraus auf Scorsese: nicht so sehr auf "GoodFellas", dessen Dealer-Panik-Sequenzen Regisseur Refn
als Vorbild für den Schulden- und Zeitdruck in "Pusher" nennt,
als vielmehr jene Filme, in denen Unbeirrbarkeit und atemberaubende Dummheit
in der Ökonomie der Karrieren, Milieubindungen und kriminellen Handlungen
eruptieren – "Mean Streets", "Casino", das Kopf-an-die-Wand-Schlagen des "Raging Bull" in der gequälten Selbsterkenntnis des "So
stupid!" oder das totenschädelhaft debile Grinsen des Streetfighter-Glatzkopfs
am Ende von "Taxi Driver". So wie in diesen Filmen bekundet sich in "Pusher
II", gegen die Fundierung des Lebens im Milieu und seinen (ohnehin gestörten)
Aktionen, ein Noir-Element, das uns mit der nackten Subjektivität der kahlen
Schädel konfrontiert, mit ihrer Endlichkeit als Verstricktheit, als Unfähigkeit,
sich selbst zu denken. Der Totenkopf grinst umso mehr aus Tonny, als der mönchische
Anblick der fast durchwegs kurz oder kahl geschorenen Pusher-Köpfe und
ihre wiederkehrenden Verrichtungen das Bild einer Religiosität ohne jede
Transzendenz abgeben: Sex und Drogenkonsum entbehren jedes Rausch- und Festcharakters;
ostentativ halbherzig oder beiläufige Alltagsroutine, ermöglichen
sie bloß, dass alles weiterläuft.
Von den kurz oder
mönchisch kahl geschorenen Köpfen im Film eines anderen dänischen
Regisseurs her lässt sich anvisieren, was den Pusher-Schädel retten
könnte. So wie die Jungfrau in Carl Theodor Dreyers "La passion de Jeanne d´Arc" durchläuft
auch Tonny eine Passion, eine Leidensgeschichte der Demütigungen und Ausschlüsse;
und auch in "Pusher II" gibt es etwas, das dem Ereignishaften des
Affekts (wie es Gilles Deleuze unter anderem an Dreyers Film entfaltet), der
Freisetzung des leuchtenden Gesichts aus raumzeitlichen, sozialen, individuellen
Fügungen, Momente lang nahe kommt. Nicht alles, was in "Pusher II"
der Schwerkraft des Milieus widersteht, ist noir'sche Negativität: Da sind
etwa die kleinen Zeitsprünge im Schnitt, die sich nie ganz auf den Drive
oder Druck des Handelns reduzieren lassen, sondern die Wirkung einer anderen
Zeitlichkeit bekunden. Noch stärker kommt die Insistenz eines Außen
über Geräusche zur Geltung, die das erste Mal in der Schlusseinstellung
in "Pusher" zu hören waren: Das (diegetisch) grundlose Droning
und Rauschen, das über Frankes todgeweihtem, vom Licht eines Technoclubs
umrankten Kopf erklang, ist in mehrere Szenen von "Pusher II" ausgeschwärmt,
versetzt Grund und Boden von Situation und Kausalität in Schwebe. Schließlich
das Ende! "Pusher II" endet mit einer Verdoppelung von Tonnys Bahnfahrt
ins Licht: Diesmal fährt er im Omnibus in den Schwarzfilm, abermals per
Schnitt auf dem wuchtigen Akkordwechsel einer Rockgitarre; erfolgte die Bahnfahrt
in der Filmmitte genau zwischen dem ersten Hochhalten seines Sohnes und der
Konfrontation mit dem Tod seiner Mutter, so hat er am Filmende, nachdem nun
auch sein Vater tot ist, seinen Sohn auf dem Schoß sitzen. Er flüchtet
weniger mit dem Baby, als dass er in die Bindung ans Baby flüchtet, mehr
noch, in eine plötzlich sichtbare Familien- und Wesensähnlichkeit
der beiden kahlen, denkunfähigen Kindsköpfe mit dem Trotzmund, der
immer kurz vor einem buberlhaften Verzweiflungsausbruch zu stehen scheint. Ob
in der Fahrt als Regression zum Schwarzfilmbild eines unzeigbaren Baby Man (vielleicht
gar der Anerkennung, dass sich das Selfmade-Gangster-Sein-Wollen aufhört)
oder in der Fahrt ins gleißende Licht, das erleuchtet, ohne aufzuklären:
Es gibt – als Ahnung einer Flucht – den affektiven Moment, der das Gesicht aufblitzen
lässt und es, zusammen mit dem Kopf und unserem Blick, auslöscht.
Drehli Robnik
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Diagonale Materialien 25, 2006, ohne Seitenangaben
Pusher II: Respect
Originaltitel: PUSHER II - Dänemark 2004 - 100 Minuten - Altersfreigabe
FSK 16 - Regie: Nicolas Winding Refn - Drehbuch: Jens Dahl, Nicolas Winding
Refn - Produktion: Johnny Andersen - Musik: Lol Hammond, Peter Peter - Kamera:
Morten Søborg -
Schnitt: Janus Billeskov Jansen, Anne Østerud
Besetzung:
Mads Mikkelsen: Tonny
Leif Sylvester: The Duke
Anne Sørensen: Charlotte
Øyvind Hagen-Traberg: Ø
Kurt Nielsen: Kurt, die Möse
Karsten Schrøder: Red
Maria Erwolter: Gry
Zlatko Buric: Milo
Ilyas Agac: Muhammed
Lenina Christiansen: Jeanette
Sven Erik Eskeland Larsen: Svend
Maya Ababadjani: Luder #1
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