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Renn, wenn du kannst
Immer wieder schön spitz zugeschliffen ist Dietrich
Brüggemanns ganz und gar nicht betroffenheitsduseliger Rollstuhlfahrer-und-Zivi-Film "Renn,
wenn du kannst".
Es ist ja nicht so, dass man jedem deutschen Film, der
im Kino läuft, ansieht, was er da verloren hat. Es gibt da beinah unendlich
viel hilflos Bemühtes oder uninteressant Abgebrühtes, fürs Fernsehen
Gedrehtes, dramaturgisch zu Krummes, zu Gerades, zu Holpriges und zu Glattes,
hier und da abgeschaut und halbverdaut, Talentproben, die zeigen, dass eine/r
was kann, ohne dass man sähe, was es eigentlich soll. Die beinah unzähligen
deutschen Filmförderanstalten fördern, von den wirklich spannenden
Sachen am ehesten noch abgesehen, alles, was ihnen vor die Flinte gerät
und wünschen bzw. verlangen, dass, was hinten dann rauskommt, ohne Ansehen
der letztlichen Qualität auch in die Kinos gelangt. Und da stehen viele
dieser Filme dann verloren herum und haben der Welt nichts zu sagen.
Dietrich Brüggemanns "Renn, wenn du kannst",
gegen den man manches einwenden kann, ist da anders. Man sieht gleich, dass
das ein Film ist, der unbedingt ins Kino will, der viel dafür tut, dann
zu Recht dort zu sein. Dabei klingen die Prämissen erst einmal nach Selbererlebensschmonzette eines Jungregisseurs. Im Kern nämlich erzählt
"Renn, wenn du kannst" Geschichten aus dem Leben eines Zivis. Dieser Zivi, sein Name ist Christian, bekommt es mit einem Querschnittgelähmten
namens Ben zu tun. Der ist ein hoch begabter Schikaneur des professionellen
Betreuungspersonals sowie der eigenen Mutter, kommt mit seiner Diplomarbeit
nicht zurande und gibt sich als jede Form von Mitleid schroff abwehrender Zyniker
im oberen Hochhausstockwerk, einer, der einem Mädchen mit Cello vom Balkon
aus mit dem Fernglas hinterherguckt, einer, denkt man sofort, der seine Immobilität
mit beweglicher Klappe und schnellen und bösen Gedanken kompensiert.
Dieser erste Eindruck ist auch nicht falsch. Jedoch macht
Robert Gwisdek - der Sohn von Michael Gwisdek und
Corinna Harfouch - aus dem Klischee einen überzeugend enervierenden Menschen.
So einfach, dahinter nach und nach einen verletztlichen Mann aufscheinen
zu lassen, macht es sich das Drehbuch zum Glück nur bedingt. Was die Handlung
angeht, kommt es zunächst allerdings, wie es muss: Ben plus Zivi Christian plus Cellofrau Annika (Anna Brügemann, die Schwester des Regisseurs,
auch Drehbuch-Koautorin) fügen sich zum einem etwas merkwürdigen Dreier.
Ben sowie Christian verlieben sich in die Cellofrau und die weiß
nicht genau. Während sie ein persönliches Musikauftrittspsychodrama verpasst bekommt, bleibt Christian von allen dreien am blassesten.
(Will Medizin studieren, kann kein Blut sehen, naja.) Ganz so, wie man denkt,
geht es nicht aus, jedoch ist der Plot ganz sicher nicht das, was an "Renn,
wenn du kannst" überzeugt.
Eher sind das einzelne Stellen, an denen Bruder und Schwester
Brüggemann ihre Figuren, ihre Dialoge, auch die Rhythmen des Films schön
spitz zugeschliffen haben. Man spürt immer wieder einen sehr genauen Sinn
fürs stimmige Timing und Robert Gwisdek ist
für lakonische Dialogbosheiten sichtlich der richtige Mann. Wenn Ben ein
kleines Mädchen im Aufzug zum Ärger der Mutter mit garstiger Mimik
erschreckt und hinterher sagt, dass ihm das stets so ergehe - erst verdirbt
er es sich mit den Frauen und danach hassen ihn auch noch deren Mütter
-, dann ist das erstens ein durchaus gelungener Oneliner und
zweitens eben auch exemplarische Vorführung einer Kompensationsstrategie.
Die Frauen, mit denen er es sich verderben könnte, lernt Ben ja gar nicht
erst kennen. (Ausnahme Annika, aber ach.) Wann immer die Geschichte sich in
einer Sackgasse zu verirren droht, holt Brüggemann sie mit entweder Tempo
oder allerdings meist allzu atmosphärischen Bildern oder gut ausgewählter
Indiemusik da wieder raus. Nicht dass das sinnvoll irgendwohin
führte, aber Brüggemann rennt, weil er kann und verhindert so, dass
sein Film berechenbar wird.
Leider hat er gelegentlich einen Einfall zu viel und
schnappt gegen Ende dann über mit einer Traumsequenz, die nur halb eine
ist. Schwarzer Monolith auf der Lichtung, Figur vor dem Himmelstor: holla. Der
Film weiß mit seiner Geschichte nicht weiter, rettet sich ins Überambitionierte,
nur um in letzter Minute mit einem sich aus dem Drucker schiebenden Blatt Papier,
Aufschrift "Sechs Monate später", aus heiterem Himmel noch einen
formal etwas übermütigen Schlenker zu wagen. "Renn, wenn du kannst"
ist ein Film, der mehr will, als er kann. Am Ton, am Rhythmus, an den Dialogen
und an der Musik stimmt aber was und das macht allemal neugierig auf Brüggemanns
nächstes Projekt.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen in: www.perlentaucher.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Renn, wenn du kannst
Deutschland 2010 - 112 min.
Regie: Dietrich Brüggemann - Drehbuch: Dietrich
Brüggemann, Anna Brüggemann - Produktion: Wüste Film Ost - Kamera:
Alexander Sass - Schnitt: Vincent Assmann - Musik: Dietrich Brüggemann
- Ton: Jacob Ilgner - Verleih: Zorro Film - Altersfreigabe: ab 12 Jahre - Besetzung:
Robert Gwisdek, Anna Brüggemann, Jacob Matschenz, Franziska Weisz,
Leslie Malton, Michael Sens u.v.a.
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