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Ricky
- Wunder geschehen
Francois
Ozons abenteuerlicher „Ricky“
Lass Dich überraschen!
Der Franzose Francois Ozon mag es lieber
ungewöhnlich. Wie einst Rainer Werner Fassbinder oder auch Alan Rudolph
reist er mit seinen Filmen quer durch alle Genres, erzählt schräge
Familiengeschichten („Sitcom“) oder Liebesgeschichten rückwärts als
Trennungsgeschichten mit utopischem Ausblick („5x2“). Glaubt man ihn nach Filmen wie „8 Frauen“ oder „Swimming
Pool“ als brillanten Frauenregisseur
rubrizieren zu können, dreht er unmittelbar darauf „Die
Zeit die bleibt“ – einen
herzzerreißenden Film über das Sterben eines jungen Mannes. Und nur
um sich danach mit „Angel
– Ein Leben wie im Traum“
einen um 1900 spielenden Kostümfilm über das Leben, die Träume
und die Liebe einer Autorin trivialer Liebesgeschichten zu gönnen, der
selbst wieder wie eine Daily Soap funktioniert, die ja „Sitcom“ auch schon war. Wer sich also in einen
Film von Francois Ozon hinein begibt, sollte auf Überraschungen gefasst
sein! Und eigentlich verbietet es sich, im Vorfeld über seine Filme zu
schreiben, weil man unweigerlich sogenannte »Spoiler« produziert
und damit das intellektuelle wie emotionale Vergnügen im Kinosaal teilweise
beschädigt. Wer also ein ungeteiltes Vergnügen haben will, dem sei
gesagt: Bitte versäumen Sie keineswegs den wunderbaren „Ricky“ und lernen
Sie wieder staunen, was Sie alles hinzunehmen gewillt sind, wenn eine Geschichte
im Kino wirklich funktioniert! Und jetzt, bitte, nicht mehr weiter lesen!
„Ricky“, der neue Film von Francois Ozon,
beginnt wie ein Film der Brüder Dardenne oder von Ken Loach. Katie (Alexandra
Lamy) ist allein erziehende Mutter, zum Vater von Lisa (großartig gespielt
von Melusine Mayance) hat sie längst keinen Kontakt mehr. Katie ist häufig
erschöpft, bekommt den Alltag zwischen Berufsalltag und Mutterrolle gerade
eben noch so bewältigt, was aber auch daran liegt, dass Lisa sich geradezu
rührend um ihre Mutter kümmert. Die Mutter erschöpft, das Kind
früh selbst verantwortlich handelnd – diese Konstellation kennen wir nur
zu gut. Aus dem Kino, aber natürlich auch aus der Alltagswirklichkeit.
Katie und Lisa sind nicht reich, aber schlimmer als Armut ist der Mangel an
Zeit füreinander.
Die Situation spitzt sich zu, als Katie
auf der Arbeit Paco (Sergi Lopez) kennen lernt. Jetzt, so erscheint es zumindest
Lisa, verliert sie ihre Mutter an einen neuen Mann, weshalb sie Pacos Freundlichkeiten
schroff zurückweist. Schnell ist Katie schwanger, schnell ist das Kind
da, noch schneller ist Paco von seiner neuen Rolle überfordert. Ricky,
so heißt das Baby, verlangt nachdrücklich sehr viel Aufmerksamkeit,
schreit Tag und Nacht. Die Familie gerät aus der Bahn, der Ton in der kleinen
Wohnung wird schärfer, gereizter.
Die Situation spitzt sich abermals zu,
als Katie Blutergüsse auf Rickys Rücken entdeckt und Paco deshalb
Vorwürfe macht. Noch immer sind wir nicht sehr weit von „Das
Kind“ der Brüder
Dardenne entfernt, nur dass Paco kein kleinkrimineller Tunichtgut ist wie damals
Bruno einer war. Doch Ozon wählt einen anderen Weg, beginnt ein neues Spiel
mit dem Zuschauer: Dass Ricky besonders laut schreit, als die Familie einmal
ein gebratenes Geflügel essen will, hat seinen Grund. Dass immer wieder
Vögel bei den Außenaufnahmen zu sehen sind, auch. Dass sich der Blick
auf die Geflügeltheke im Supermarkt allmählich ändert, auch.
Der überforderte Paco hat die Familie
im Zorn schon verlassen, als Ricky Flügel zu wachsen beginnen. Schnell
lernt er, kurze Wege zu fliegen. Ricky, das ungewöhnliche Kind, verändert
das Leben von Katie und Lisa entscheidend. Und Ricky scheint seiner Familie
auch sonst Glück zu bringen: ein Lottogewinn entspannt die Situation der
Haushaltskasse. Zur Feier des Tages gibt es einen Ausflug in den Supermarkt.
Es ist ein ganz erstaunliches Kunststück,
wie es Francois Ozon gelingt, ein ganzes Stück Fantasy in ein sozialrealistisches
Setting zu integrieren – ohne dadurch seinen Film zu beschädigen. Die Verunsicherung
des Zuschauers währt nur kurz, dann hat man sich an den Gedanken, es hier
eben mit einem ungewöhnlichen Kind zu tun zu haben, gewöhnt. Dass
Ricky immer mehr einem Engel ähnelt, stört nicht weiter. Doch mit
Rickys »Entdeckung« beginnen die Probleme: Spezialisten der Medizin
wollen das Wunder untersuchen, die Medien wittern eine Sensation. Eines Tages
steht Paco wieder vor der Tür und hat einen Plan.
„Ricky“ ist ein ganz einfacher Film, der
doch nach und nach eine unerhörte Tiefe bekommt. Nach Filmen über
Liebe, Beziehungen, Trennungen, Sterben und Verlust, geht es Ozon diesmal um
»das Wunder der Geburt«. Recht präzise zeichnet der Film ein
psychologisches Familienporträt darüber, was ein neues Baby in der
Struktur einer Kleinfamilie verändert. Dass die wachsenden Flügel
zunächst das Thema der Kindesmisshandlung auf die Tagesordnung setzen,
ist dabei sozusagen der letzte Flügelschlag des Sozialrealismus, bevor
sich der Tonfall des Filmes ins Märchenhafte oder surreal Traumhafte wandelt.
Doch auch als Ricky Flügel wachsen, wird Ozons Film nicht sentimental oder
anthropologisch oder religiös, sondern behält – obwohl er all diese
Momente auch aufweist - seinen Sinn für einen schrägen Humor, wenn
er die ungelenken Flugversuche des Babys in aller Härte zeigt, wenn er
zeigt, wie Katie und Lisa versuchen, ihn gegen mögliche Unfälle zu
polstern.
Am Ende ist Katie erneut schwanger – und
weil sich der Film zuvor erstaunlich ausgiebig mit Pacos exorbitanter Körperbehaarung
beschäftigt hat, fragt man sich gespannt, was diesmal wohl dabei herauskommen
wird.
Ulrich Kriest
Dieser
Text ist zuerst erschienen in der: Stuttgarter Zeitung
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Ricky
- Wunder geschehen
Frankreich
2009 - Originaltitel: Ricky - Regie: François Ozon - Darsteller: Alexandra
Lamy, Sergi López, Mélusine Mayance, Arthur Peyret, André
Wilms, Jean-Claude Bolle-Reddat, Julien Haurant - Prädikat: wertvoll -
FSK: ab 6 - Länge: 90 min. - Start: 14.5.2009
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