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Ricky
- Wunder geschehen
Dann
fliegt er eben, na und?
Die falsche Fährte sieht so aus:
Katie (Alexandra Lamy) arbeitet in einer Fabrik, in der etwas in etwas gefüllt
wird, und lernt da Paco (Sergi Lopez) kennen. Sie sitzen auf einer Bank, sie
rauchen eine Zigarette, sie haben Sex auf der Toilette, sie haben ein Date,
er zieht bei ihr ein (Sozialbau), Katies Tochter beäugt ihn erst scheel,
Katie wird schwanger. Alles sehr oberflächlich erzählt, Francois Ozon
zeigt kein besonderes Interesse an genauer Schilderung des Milieus, der sozialen
Umstände oder des innerfamiliären Eifersuchtsdramas. Ein paar Signale
gestreut, ein paar Zeichen gesetzt, ein paar Andeutungen gemacht, ein paar Mal
übers Wasser auf die Wohnblöcke hochgeschwenkt, damit hat es sich.
Als die Familie zusammensitzt und Hähnchen isst und Lisa (Melusine Mayance),
die Tochter von Katie, einen Flügel verlangt, denkt man sich nichts dabei.
Oh, wie man aber sollte! Dies ist eine
Vorausdeutung auf das, was später geschieht. Ricky, das Baby, entwickelt
sich seltsam. Irgendwas stimmt mit ihm nicht. Er hat Beulen und Wunden an den
Schulterblättern. Unvermittelt sitzt er auf dem Schrank. Er schreit, aber
nicht, weil er zahnt. Ricky flügelt. Aus seinen Schulterblättern wachsen
hässliche kleine Flügelchen. Sie wachsen und wachsen, man sieht es,
wie anders, mit Staunen. Auch Katie staunt, aber gar nicht so sehr. Sie nimmt,
als gute Mutter, ihren Ricky, wie er ist. Dann fliegt er eben, na und?
"Ricky", der Film, allerdings,
handelt sich mit dem Flügel-Wunder Probleme ein, die ihn, wenn nicht auf
der Stelle, dann doch recht bald um jeden Sinn bringen. Erstens wird die ganze,
sowieso eher hingeschluderte Milieu-Exploration auf der Stelle als langer Anlauf
erkennbar zu einer Pointe, die den Anlauf selbst und seinen Schein-Realismus
komplett entwertet. Der Film ist buchstäblich ein Witz. Ich zitiere aus
der Wikipedia: "Als Witz bezeichnet man einen kurzen Text (Erzählung,
Wortwechsel, Frage mit Antwort oder Ähnliches), der einen Sachverhalt so
mitteilt, dass nach der ersten Darstellung unerwartet eine ganz andere Auffassung
zutage tritt." Genau so funktioniert "Ricky". Erwartungen werden
aufgebaut und mit einem Schlag dann zerstört. Man ist für ein paar
Minuten verblüfft. Dann aber dämmert einem, dass der Film mit seiner
Pointe komplett implodiert.
Denn erstens: Es hat seinen Grund, dass
der Witz als Erzählform mit Kürze assoziiert wird. Ozons Versuch,
ihn auf Spielfilmlänge zu strecken, ist gewiss ein mutiges Experiment,
geht aber, wie leider nicht anders zu erwarten, völlig nach hinten los.
Es hat, zweitens, seinen guten Grund, dass ein Witz in der Regel mit der Pointe
endet. "Ricky" mitnichten. Der Film geht noch weiter, und zwar eine
Weile. Nicht als angewandte Witzforschung und also, um weitere überraschende
Wendungen zu nehmen, sondern erst mal in mehrfachen Wiederholungen der Pointe.
Das Baby fliegt! Das Baby fliegt! Das Baby fliegt! Ozon mischt Boulevardjournalismuskritik
darunter, andeutungsweise. Und dann, Rohmers "Komödien und Sprichwörter"-Filme
als Farce sozusagen, wird er zur verfilmten Redensart und illustriert, was mit
der Wendung "Man muss loslassen können" ganz buchstäblich
gemeint sein könnte.
"Ricky" ist ein Witz, und in
jeder Hinsicht ein schlechter. Probleme, die man durchaus Ernst nehmen kann
- Eifersucht zwischen Geschwistern, Misstrauen zwischen Partnern, der Umgang
mit dem Monströsen bzw. einem Wunder -, nimmt er leicht. Aber wie oft bei
Ozon ist das keine Leichtigkeit, hinter der sich in irgendeiner Weise Lebensweisheit
verbirgt. Es ist die reine Oberfläche, die Geringschätzung seines
Gegenstands und seiner Figuren. Aus einer dünnen Kurzfilmidee macht er
ein Film-Souffle. Je genauer man drüber nachdenkt, desto bitterer schmeckt
es.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen, anlässlich der Berlinale 2009, in: www.perlentaucher.de
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Ricky
- Wunder geschehen
Frankreich
2009 - Originaltitel: Ricky - Regie: François Ozon - Darsteller: Alexandra
Lamy, Sergi López, Mélusine Mayance, Arthur Peyret, André
Wilms, Jean-Claude Bolle-Reddat, Julien Haurant - Prädikat: wertvoll -
FSK: ab 6 - Länge: 90 min. - Start: 14.5.2009
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