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Der
rote Punkt
Am Anfang steht eine Botschaft aus dem
Reich der Toten. Aki ist bei ihrem Onkel und ihrer Tante aufgewachsen, studiert
jetzt Deutsche Literatur und Sprache. Immer wieder träumt sie von ihrer
Kindheit; es sind verschwommene, fragmentarische Erinnerungsbilder. Als sie
ihre Pflegeeltern wieder einmal besucht, bekommt sie ein Paket überreicht,
das offenbar sehr lange auf die Aushändigung gewartet hat. In dem Paket
befinden sich ein Fotoapparat mit einem Film und eine deutsche Landkarte, in
der eine Stelle mit einem roten Punkt markiert ist. Aki lässt den Film
entwickeln und bekommt Bilder einer jungen Familie zu sehen, die mit ihren Erinnerungen
zu tun haben. Eine Autofahrt, ein Lied, Lachen, eine vage Stimmung. Doch was
bedeutet der rote Punkt auf der Landkarte? Für Aki steht fest, dass sie
sofort nach Deutschland reisen muss. Die Pflegeeltern und auch ihr Freund können
das nicht verstehen.
So wie Rudi im Gedenken an Trudi in „Kirschblüten
– Hanami“ (fd 38604) nach Japan reiste, reist jetzt Aki ins Allgäu, besucht
die Orte, an denen damals offenbar die Fotos entstanden sind. Ungefähr
dort angekommen, wohin der rote Punkt weist (der Maßstab der Karte ist
zu groß), begegnet sie dem jungen Elias Weber, der gerade Ärger mit
der Polizei hat, weil er immer mit seinem Motorrad durch die Gegend rast. Ganz
nebenher erfährt man, dass Elias 18 Jahre alt ist. Just vor 18 Jahren verlor
Aki hier in der Gegend bei einem Autounfall ihre Familie. Durch glückliche
Umstände wird sie nun von der Familie Weber als Gast aufgenommen. Während
Aki sich auf die Suche nach der Stelle macht, die durch den roten Punkt bezeichnet
ist, gerät die deutsche Familie vor ihren Augen aus den Fugen. Der Konflikt
zwischen Vater und Sohn eskaliert, die Ehe der Eltern ist durch kühle Distanz,
ja, Desinteresse gekennzeichnet. Vater Johannes Weber, der vieles mit sich selbst
abzumachen gewohnt scheint, zeigt ein auffälliges Interesse an dem japanischen
Gast und scheint Aki mitunter regelrecht zu beschatten. Auch Elias und Aki kommen
sich – weniger durch Worte als vielmehr durch Gesten – näher.
Weil die Filmemacherin Marie Miyayama
dem aufmerksamen Zuschauer früh und auch etwas plump klar macht, dass die
beiden Geschichten, die sie hier entfaltet, an einem ganz zentralen Punkt zusammenhängen,
bekommt sie die Freiheit, nicht auf Pointe hin „spannend“ erzählen zu müssen.
Es geht in „Der rote Punkt“ nicht um die Suche nach Aufklärung, sondern
um Trauerarbeit, aber auch um Schuld und die Sehnsucht nach Vergebung. Weil
das „dunkle Geheimnis“, das der Geschichte von Aki und Johannes innewohnt, sich
sehr früh andeutet und dann fast nebenher gelüftet wird – und auch
nicht etwa in eine konventionelle Rachegeschichte mündet; weil auch alle
anderen Konflikte quasi nebenher abgearbeitet, aber nicht notwendig gelöst
werden, bleibt dem Film reichlich Zeit und Raum für Atmosphärisches,
für eine ganz und gar unspektakuläre Poesie, die Figuren, Landschaft
und unterschiedliche Mentalitäten aufeinander bezieht. Die prägnanten
und klaren Bilder, die Kameramann Oliver Sachs gefunden hat, entsprechen der
unaufdringlichen und geduldig beobachtenden Introspektion von „Der rote Punkt“.
Als Aki schließlich den überwucherten Gedenkstein entdeckt, der an
den Unfalltod ihrer Familie erinnert, nimmt sie rituell den Abschied, den sie
als Kind nicht nehmen konnte. Dass die Menschen, die vorher auf den Fotos zu
sehen waren, jetzt als Phantome mit ihr essen und lachen, ist ein schönes
Bild für die stille Ernsthaftigkeit dieses gelungenen Debüts, das
sich ums Innenleben seiner Figuren mehr kümmert als um Plot Points und
(Fernsehspiel-)Konventionen. Dieser originelle HFF-Abschlussfilm ist gewiss
nicht frei von Schwächen, zeugt aber von einer erkennbaren Haltung; dass
er auf dem Hofer Festival 2008 mit dem „Förderpreis Deutscher Film“ ausgezeichnet
wurde, hilft ihm hoffentlich, in den Kinos etwas Aufmerksamkeit zu finden.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: film-Dienst
Der
rote Punkt
Deutschland
/ Japan 2008 - Regie: Marie Miyayama - Darsteller: Yuki Inomata, Hans Kremer,
Orlando Klaus, Zora Thiessen, Imke Büchel, Shinya Owada - FSK: ohne Altersbeschränkung
- Fassung: teilweise fremdsprachig m.d.U. - Länge: 82 min. - Start: 4.6.2009
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