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Rückenwind
Ein
Märchen aus der Uckermark
Jan Krügers "Rückenwind"
ist ein radikal offener Film. Was Halluzination ist, was Wirklichkeit, bleibt
in der Schwebe.
Zwei junge Männer brechen auf, sie
nehmen die Räder, sie fahren mit dem Zug, sie steigen aus irgendwo in Brandenburg,
sie fahren los, ohne Ziel. Johann (Sebastian Schlecht) und Robin (Eric Golub)
heißen sie. Es regnet, es kommt zum Streit, weil Robin die Zeltstangen
nicht mitgenommen hat. Er lacht frech, er nimmt die Vorwürfe von Johann
nicht ernst, sie legen sich ins Zelt, das, flach auf dem Boden, nicht mehr ist
als eine immerhin wasserabweisende Decke. Im Dunkeln dann eine Verfolgungsjagd
wie ein Traum, Bewegung durchs Unterholz im flackernden Licht der Taschenlampen,
sie wollen einander wie verspielte Tiere, dann ein Sturz, Johann wird ohnmächtig,
als er erwacht, ist er gefesselt, die beiden haben Sex im Wald in der Dunkelheit.
Die schönste Szene des Films: Mit
sehr langer Brennweite ist ein Fahrradwettrennen der beiden auf einem Stück
Teer mitten in der Landschaft ins Bild gesetzt. Riesengroß diese Straße,
womöglich auch eine ehemalige Flugzeug-Landebahn - winzig klein ganz weit
hinten die beiden. Erst nur das Flirren und Flimmern von Wärme und Licht,
frontal steht die Kamera, kaum erkennt man Johann und Robin. Sie stürmen
heran, aber zunächst schluckt die statische Einstellung beinahe vollständig
Physis und Tempo. Als sie nahe sind, gibt die Kamera ihre Ruheposition auf und
fängt die Bewegung, den Schweiß, die Erschöpfung der Männer
mit großer Aufmerksamkeit, ja, sogar Zärtlichkeit ein. Das Spiel
der beiden, ein Hin und Her zwischen Annäherung und Abstoßung, spielt
die Kamera der herausragenden Kamerafrau Bernadette Paassen ganz bewusst mit:
Sie wartet, zögert, sie lauert, sie weist zurück, sie empfängt
mit offenen Armen und manchmal liebkost sie auch Haut und Haar.
"Rückenwind" ist ein radikal
offener Film. Er will und geht ins Freie hinaus und er nimmt sich zugleich die
Freiheit, was er auf die eine Weise begonnen hat, auf andere Weise fortzusetzen.
Seine Fortbewegungsform, sein Erzählen ist aufs Schönste erratisch.
Plötzlich nämlich sind dann die Fahrräder weg, gestohlen vielleicht,
jedenfalls: weg, und mit ihnen Proviant, Karten, der letzte Rest der Verbindung
zu Alltag und Zivilisation. So ist die Uckermark unversehens so was wie der
Sherwood Forest. Die Liebenden werden zu Wegelagerern und überfallen ein
älteres Radlerpaar und nehmen ihm den Proviant ab. Immer wieder kommt es
in der Geschichte zu seltsamen Einlagerungen wie dieser, zu Verschiebungen,
Interferenzen, Überschreitungen des einfachen realistischen Modus.
So erzählt "Rückenwind"
erst einmal von einer ganz normalen Radeltour. Es wird geschwommen in brandenburgischen
Seen und herumgelegen an ihren Ufern. Zugleich aber ist der Film auch das Märchen
von zweien, die ausziehen, das Lieben und Fiebern und Fürchten zu lernen.
In einer weiteren Wendung gelangen sie auf einen Bauernhof, dort lebt eine Mutter
mit ihrem 16-jährigen Sohn. Grit (Iris Minich) und Henri (Denis Alevi)
heißen sie. Am Feuer erzählt Grit die Geschichte des Nathan von Witzlow,
eine Geschichte, wie Kleist sie erzählt haben könnte, von einem jungen
Mann, einem fanatischen Jäger, der eines Tages einfach verschwindet, für
tot gilt, bis man seltsame Opfergaben erjagter Tiere vor brandenburgischen Häusern
findet.
Das erzählt Krüger zunächst
einfach hinein in seine Geschichte, die dann aber von der Legende des Nathan
von Witzlow wie infiziert erscheint. "Rückenwind" verwandelt
sich, ganz und gar vielleicht, in einen Fiebertraum: Johann isst von einem Strauch
mit dunklen Beeren und beginnt zu halluzinieren. Was folgt, ist Halluzination
oder Wirklichkeit oder beides. Genau kann man das nicht wissen, genau will man
es auch nicht wissen. Schade nur, dass man am Ende herausgerissen wird aus diesem
Zwischenzustand. Der Film kehrt in eine Rahmenerzählung zurück, die
freilich das einzig Überflüssige an ihm ist.
Ekkehard Knörer
Dieser Text ist zuerst erschienen
in der: taz
Rückenwind
Deutschland
2009 - Regie: Jan Krüger - Darsteller: Sebastian Schlecht, Eric Golub,
Iris Minich, Denis Alevi, Rainer Winkelvoss, Bianca Wiedersich - FSK: ab 12
- Länge: 75 min. - Start: 4.6.2009
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