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Die
Sanfte
Zu
Beginn das Ende eines Lebens, fixiert in minutiös kalkulierten Bildern,
die wie ein Sekundenprotokoll die Bewegungen, die der Sprung vom Balkon ausgelöst
hat, festhalten: ein umfallender Stuhl, der kippende Tisch, ein weißer
Schal, im Wind flatternd, bremsende Autos, schließlich die Frau selbst
am Boden. Die Bilder sind Hieroglyphen, in bestechend klaren Farben (es ist
Bressons erster Farbfilm) geschriebene Rätsel. Wer war die Frau (Dominique
Sanda), warum tat sie es? Die Sequenz ist von außen, aus der Perspektive
der Haushälterin gefilmt, was ihren Rätselcharakter noch verstärkt.
Vorerst unverständliche Bilder, zusammengehalten von einer äußeren
Logik, Skelette einer Geschichte, die verloren gegangen ist; Überreste
eines »Sinnes«, den wir nicht kennen. Der Film ist ein Versuch,
diesen Sinn zu finden, das Rätsel zu lösen; der Anfang sein Motto.
Zugrunde
liegt ihm die »phantastische Erzählung« Die
Sanfte
von F. M. Dostojewskij, einem der Schriftsteller, die Bresson stark beeinflußt
haben. Wie schon bei MOUCHETTE unterlag
der Stoff vielfachen Veränderungen; wie dort ist er Ansatzpunkt für
ein aktuelles Interesse, wird nicht im üblichen Sinne »verfilmt«.
Bresson verlegt das Geschehen in das Paris der sechziger Jahre, Boulevard Lannes
zeigt ein Straßenschild. Der Ehemann (Guy Frangin) ist ein ehemaliger
Bankangestellter, die »Sanfte« stammt aus armen Verhältnissen
und wohnte bei Verwandten; beider Vorgeschichte wird nicht weiter erwähnt.
Müßig, zu untersuchen, welche der Details hinzugefügt wurden;
auch die zweifellos wichtige Dimension des Visuellen, die neu entsteht, ist
nicht das Entscheidende. Entscheidend ist der Gehalt dieser Visualität,
die nichts abbildet, keine Zeichen für ein Anderes, einen »Inhalt«
formt, sondern Momente, Reflexe und Bruchstücke einer objektiven Realität
selbst abbildet. Diese anvisierte Realität geht nicht im Rahmen des Inhalts
auf, sondern besteht neben diesem und vor diesem. Das Erstaunliche ist, daß
UNE FEMME DOUCE sich nicht - was nahe läge - die Perspektive des Mannes,
seiner Suche nach den Gründen und Zusammenhängen für den Selbstmord
seiner Frau zu eigen macht; nicht einmal darin, daß Bresson diese Perspektive
kritisch an ihren Irrtümern, an ihrem Unverständnis »zeigte«;
sondern daß die Geschichte, der Stoff selbst zu einem Teil jener Realität
wird, die sich in zunächst unverständlichen Zeichen, in Hindernissen,
Widerständen, die sich uns in den Weg stellen (einer Praxis oder Reflexion),
bemerkbar macht. Der Film ist übersät von den Zeichen des Alltäglichen,
welche ständig die Kontinuität der Geschichte, des Begreifbaren unterbrechen
und aufsprengen. Primär ist das unübersichtliche, ritualisierte, zersplitterte
Alltagsleben, nicht die Entwicklung einer Beziehung, das private Drama. Aus
dem Chaotischen und Sinnlosen dieser Grundschicht erst erwächst das Drama,
die Liebe, immer begleitet von der Möglichkeit zu scheitern, zu irren,
in das Unverständliche zurückzufallen.
Somit
ist UNE FEMME DOUCE Rekonstruktionsarbeit. Gelingt ihm die Rekonstruktion des
Dramas, das die Veränderung der Realität beabsichtigt? Welches Drama
verschlüsselt sich in der Anfangssequenz? Sicherlich besteht es nicht nur
in der Tragödie eines Kapitalisten, eben des Pfandleihers und seinem Willen
zur Macht über die Frau, seiner engen Vorstellung vom Richtigen, seiner
Unfähigkeit, die Wünsche seiner Frau zu begreifen, seiner Einsamkeit.
Er lernt sie im Leihhaus kennen, gibt ihr Ratschläge, manchmal sogar mehr
Geld als üblich. Er plant die Heirat, sie willigt ein. Gleich nach der
Heirat versucht er, sie in seine Lebensweise einzusperren, wie den Affen hinter
dem Gitter des Jardin des Plantes, vor dem sie zum erstenmal über Liebe
sprachen; zu ihrer überschwenglichen Freude bemerkt er in dem begleitenden
Kommentar, der seine Pläne, Ansichten, Rechtfertigungen enthält, bis
auch diese vor der Realität des Todes verstummen: »Ich habe eine
kalte Dusche in diese Trunkenheit geschüttet.« Er sagt, Kino und
Theater seien zu teuer; sie gehen ins Kino und sehen Benjamin
ou les mémoires d'un puceau
(Michel Deville, 1968), später im Theater Hamlet in
einer der gängigen pathetischen Aufführungen. Sie arbeitet im Laden
mit, sie bewertet die versetzten Gegenstände nicht nach ihrem Tauschwert
(wie er es tut), sondern nach dem Gebrauchswert, den sie für die Leute
haben, nach dem Maß, wie schwer es ihnen fällt, sich davon zu trennen.
Erster Konflikt. Schweigend essen sie; das Schweigen wird zum primären
Verhältnis. Sie bleibt weg; er, eifersüchtig, sucht sie und findet
sie im Auto eines fremden Mannes. Die analoge Szene bei Dostojewskij ist eindeutig:
sie weist den Mann zurück; hier dagegen ist die Situation offen. Bresson
geht weiter: selbst wenn die Frau ohne moralische Legitimation Kontakt aufgenommen
hat, sie in diesem Sinne nicht »unschuldig« ist, hat sie doch Recht
gegenüber seiner Starrheit und Empörung. Ihr Recht besteht im unbeirrbaren
Festhalten an den Wünschen, am Verlangen, an der Freiheit gegenüber
den vorgegebenen Angeboten, den Kompromissen, der Kälte. Ihr Schweigen,
ihre Sanftheit ist Protest. Sie sagt: »Ich will etwas Größeres,
Weiteres«, er dagegen: »Ich will ein sicheres, gefestigtes Glück.«
Er nimmt sie wieder mit nach Hause; dort legt sie seinen Revolver, als er zu
schlafen scheint, auf ihn an; aber sie drückt nicht ab. Hat sie bemerkt,
daß er nicht schlief? Am nächsten Tag kauft er ein Bett; sie schlafen
getrennt, sechs Wochen lang ist sie krank. Sie schließen sich voneinander
ab. Er versucht, verzweifelt, mit ihr zu sprechen, sie weint, erneute Krankheit.
Er will sich radikal ändern, den Laden verkaufen, sie sollen zusammen verreisen.
Sie sagt: »Ich werde treu sein.« Er verläßt kurz das
Haus, auch hier eine bedeutsame Änderung gegenüber der Vorlage: dort,
um Regelungen zu treffen, hier ohne Grund, er weiß selbst nicht, warum.
Im Moment seines Glückes, scheinbarer Klarheit, wo die Pläne und Erklärungen
über die auseinanderfallende Realität zu triumphieren scheinen, gerade
da taucht das Unverständliche, das Unbeherrschte, »Irrationale«
wieder auf, durch ihn selbst. Von der Haushälterin wird die »Sanfte«
gefragt, ob sie glücklich sei; sie antwortet: »Ja.« Sie betrachtet
sich im Spiegel, nimmt das goldene Kreuz, welches sie zu Beginn versetzt hatte,
aus der Schublade, legt es wieder weg, als die Haushälterin hereinkommt,
geht, wieder allein, zum Fenster, öffnet und springt hinaus: die Haushälterin
kommt zurück, dann sehen wir die gleichen Bilder wie zu Anfang. Auch hier:
kurz nachdem sie sagt, daß sie glücklich sei, nachdem das Ziel erreicht
scheint, geschieht etwas, das nicht dazu paßt: der Tod.
Wir
sehen die Bilder des Anfangs in einer Veränderung: dort kamen wir von außen
dazu, mit der Haushälterin; hier bleibt die Kamera im Raum, wissend, und
die Tür wird von außen geöffnet. Wir stehen nicht mehr außerhalb;
die Bilder, die sich uns anfangs als Rätsel präsentiert hatten, sind
entschlüsselt, ihre Geschichte aufgefunden. Es ist die Geschichte einer
Revolte. Einmal sagt er: »Sie ging von der Herausforderung zur Revolte
über. « Bedingungslos hat sie den Heiratskontrakt angenommen, aber
sie war nicht bereit, das Opfer der Phantasie, die Eindämmung und Zügelung
der Wünsche, die Kontrolle, die bloß strategische Betrachtung der
Objekte zu vollziehen. Der ganze Film wird durchzogen von Momenten einer weiblichen
Imagination, einer konkreten Beziehung zu Menschen und Objekten, einer differenzierten
Phantasie und Beobachtung, die vom Mann nur als irrational, gefährlich,
unmoralisch begriffen werden. In ihnen verbindet sich das Bewußtsein der
Wünsche nach Glück, Lust, exzessiver Freude, mit einem geschärften,
konkreten Blick für die Geschichte, die Bedeutung von Objekten und Situationen.
Beides vermittelt sich in der Imagination der Frau: sie steht am Beginn ihrer
Revolte und ihrer Praxis. Das Unverständnis, der Konflikt zwischen beiden
Menschen begründet sich im unterschiedlichen Zugang zur Realität:
Strategie gegen konkrete Erfahrung, Planung gegen Aneignung, Sicherheit gegen
Spontaneität. In dieser Differenz liegt der Konflikt, nicht im Mißverständnis
oder gar in der Eigenschaft des Mannes als »Kapitalist«. Wie schon
in MOUCHETTE, so richtet sich auch hier die Revolte der Sanften gegen das
Opfer, den Tod. Der Revolver, den der Mann schon bald sichtbar ins Spiel bringt,
ist das materielle Äquivalent seiner Lebensregeln. Als die Frau das Kreuz
versetzt, nimmt der Mann den Korpus ab und gibt ihn zurück, weil er wertlos
ist; auf einem Ausflug sammelt sie einen großen Blumenstrauß, den
sie zu seiner Verwunderung wieder wegwirft; die kinetischen Objekte und tachistischen
Bilder im Musée d'art moderne verwirft er, sie begreift sie als Kunst
ebenso wie das Bild >Venus und Psyche< von Watteau im Louvre, dessen dunkle
Sinnlichkeit sie fasziniert, während er nur den Körper als Funktion
sieht. Die Medien, die den Film erfüllen (Pferderennen, Autorennen und
Schlacht über England im Fernsehen sowie Theater, Kino, Bilder, Bücher,
Musik) sind ständig Orte, an denen sich die unterschiedliche Wahrnehmung
zeigt. Im Kino, beim unterhaltenden Film Benjamin, sucht
ein unbekannter Mann mit den Händen ihren Kontakt, sie widersetzt sich
nicht, sondern wartet. Ihr Ehemann setzt sich darauf zwischen beide. Sie gehen
ins Naturkundemuseum, stehen vor riesigen Skeletten. Diese Betrachtung der Anatomie
und Physiologie führt eines der Themen Bressons zu Ende: die Abkehr von
moralischen Urteilen, der Unterwerfung des Lebens unter die Ideale, der Psychologie
der Schuld. Ebenso wie die Skelette nur »sind«, läßt
sich die Sanfte von ihrem Sein, ihrer Sinnlichkeit leiten und nicht von Gesetzen
und moralischen Imperativen. Nachdem sich beide voneinander zurückgezogen
haben, sehen wir die Frau Musik hören, lesen, Bilder betrachten. Sein Versuch,
mit ihr zu sprechen, seine Liebeserklärung verstört sie zutiefst.
Der Ausweg, den sie gefunden zu haben glaubte, ist verschlossen, das Glück,
das er anbietet, erlaubt nicht einmal mehr den Rückzug. Nicht mehr Schuld
oder Haß, sondern seine Liebe wäre für sie die letzte Resignation,
seine Pläne ihr lebendiger Tod. Glücklich ist sie, weil der Haß
verschwunden ist. Sie rettet ihr Verlangen in den Tod, den letzten Akt der Revolte.
So
wie die Anfangssequenz nicht Rückblende, sondern Rätselbild ist, so
der ständige Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht »Erinnerung«,
sondern Reflexion, Versuch, das Rätsel aufzulösen. Vor diesem Interesse
wird die reale Zeit überhaupt ausgeklammert, auf höchst virtuose Weise
durchdringen sich die Zeitebenen. Je mehr sich der Bericht dem Zeitpunkt des
Todes nähert, um so deutlicher verschränken sich die Ebenen. Schließlich
wird der Zuschauer sogar zum Teilnehmer. Der Mann erzählt (Gegenwart) von
einem der letzten Gespräche, bei dem sie im Sessel saß; er blickt
in die Richtung des Sessels, wo die Kamera steht (also auf den Betrachter);
Schnitt: sie sitzt im Sessel, blickt in seine Richtung, wo die Kamera steht
(Betrachter). Die Synthese der Ebenen muß der Zuschauer leisten, er steht
an ihrem Schnittpunkt. Die reale Zeit ist aufgehoben zugunsten der der Reflexion;
die zeitliche Reihung der Ereignisse geht in UNE FEMME DOUCE in Gleichzeitigkeit
über. Der Film ist ein Bild.
Stefan
Schädler
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Robert Bresson; Band 15 der (leider eingestellten) Reihe Film, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Stiftung Deutsche Kinemathek von Peter W. Jansen und Wolfram Schütte im Carl Hanser Verlag, München/Wien 1978, Zweitveröffentlichung in der filmzentrale mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags.
Die Sanfte
UNE FEMME DOUCE.
Frankreich 1968/69 – Regie
und Buch: Robert Bresson, nach der phantastischen Erzählung Krotkaja (»Die
Sanfte«) von F. M. Dostojewski. - Kamera: Ghislain Cloquet. - Schnitt:
Raymond Lamy. – Musik: Motive von Henry Purcell, Wolfgang Amadeus Mozart; Jean
Wiener. - Ton: Jacques Maumont, Jacques Lebreton, Urbain Loiseau. - Szenenbild:
Pierre Charbonnier. - Kostüme: Renée Miquel. - Raumausstattung:
Jacques Kébadian. - Darsteller: Dominique Sanda (Sie), Guy Frangin (Er),
Jane Lobre (Anna), Claude Ollier, Dorothée Blank. - Produktionsgesellschaft:
Parc Film/Marianne Productions. - Produzent: Mag Bodard. - Produktionsleitungl:
Philippe Dussart. - Gedreht vom 2.9. bis 12.11.1968 in Paris und Umgebung. -
Format: 35 mm, Farbe (Eastmancolor), Breitwand 1: 1,66. – Original-Länge:
2408 m = 88 min. - Uraufführung: 28. 8.1969, Paris. - TV: 20.8.1973 (ARD), 24. 4.1977 (HR III). - In der Bundesrepublik nicht verliehen.
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