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Der
Schlaf der Vernunft
Sie hatte mehr mit dem Leben vor. Sie
wollte nicht nur Ärztin sein, sie hatte sich umgesehen und erkannt, wie
verrottet auch diese Kaste war: Dea - eine Italienerin in Berlin-Kreuzberg -
wollte eine gute Ärztin sein, verantwortlich für die Gesundheit, nicht
für die Krankheit. Sie wollte diese Welt verbessern, in der es möglich
ist, mit einer Pille 'Freiheit’ zu erlangen, mit einer Pille, das ist längst
bekannt, die krank macht. Diese Pille spaltet die Welt weiterhin und verstärkt
in zwei Gruppen: eine, die Verantwortung trägt, eine, die diese Verantwortung
delegiert. Wann ein Kind kommt, bestimmt der Mann meist mit, daß keines
kommt, muß die Frau verantworten.
Dea nahm also diese Hälfte ihres
Lebens bitterernst: sie wollte ihre Widersacher stören. Dea gegen den Arzneimittelkonzern
Mondial, Moral als Macht gegen eine Supermacht? Ein ungleicher Kampf, eigentlich
gar keiner. Ein Schlag gegen Dea genügt. Es ist aus.
Und die andere Hälfte ihres Lebens,
das nicht in Hälften zu teilen sein sollte, weil sie es als Ganzes zu leben
versucht hat? Da hat sie viel verpaßt. Sie hat versäumt, ihre Töchter
kennenzulernen, die jetzt Frauen sind und anders leben und anderes wollen als
sie, wobei sie von allem profitieren, was Dea auch für sie erkämpft
hat. Vor allem hat sie versäumt, in Reinhard, ihrem Mann, Mitarbeiter bei
Mondial, einen Gegner zu sehen, der sie längst schon verlassen hat, nicht
erst, als er aus der Wohnung auszog und mit der jungen Erbin des Pillenkonzerns
eine nützliche Beziehung einging, sondern schon, als er aufhörte Dea
zu verstehen, wenn es um ihre Arbeit ging. Dea konnte denken, er nähme
sie so ernst, daß er sich nicht einmischte, sie nicht belehrte. Sie hatte
ihn für erwachsen gehalten.
Deas Bilanz also: hier ihre Mutter, die
alles vorhersah, besser wußte und die Tochter am liebsten weiter erziehen
würde, da die zwei Töchter, die gegen ihre Werte rebellieren, das
Erbe nicht anzutreten bereit sind und ihr in den Rücken fallen. Zurücklassen
muß sie einen Mann, an den sie geglaubt hatte, dessen Liebe ein Leben
lang zu dauern schien - bis ihm die Lust verging, weil sie mehr verlangt als
seinen männlichen Schutz und weniger als genau das. Er liebt jetzt Johanna,
Tochter seines Konzernchefs, die Mitarbeiterin in Deas Praxis ist, ein junges
Ding, das anpassungsfähig war, Deas Arbeit und Dea solange schätzte,
bis es einfacher wurde, sie zu verraten.
Deas 'Schlaf der Vernunft' ist vorbei,
sie fängt an zu träumen, hebt die Welt aus den falschen Angeln, in
die andere sie eingepaßt hatten. Sie richtet - in Traumszenen - mit einer
Radikalität, die der Hinterhältigkeit der Attacken gegen ihre Seele
und ihr Leben entspricht. Sie lernt dadurch, den vielfachen Tod ihrer Empfindungen,
ihres Glaubens, ihrer Sicherheit, ihrer Lust und Liebe lebend zu überstehen
- sie lernt um und kommt nun vielleicht ohne die Überlieferung aus, daß
sich alles an ewigen Werten auszurichten habe.
Ula Stöckl hat mit ihrem sechsten
langen Spielfilm ein Zeitzeichen gesetzt; klarer und eindeutiger kann man sich
nicht in die Geschichte einmischen. Sie zeigt die Logik der Gefühle, die
frei werden, weil Bewegung in sie kam: (Me)Dea störte ihren Reinhard Janssen
(Jason), sie bekämpft, was ihm als Goldenes Vlies erschien. Johanna garantiert
Reinhard den Besitz; die Ansicht auf Macht
und Erfolg verfehlt kaum ihre erotisierende Wirkung. Klare Verhältnisse.
Die Geister scheiden sich, wieder ist die Welt halbiert, in Sieger und Besiegte,
und noch läßt sich die Kluft zwischen den ungleichen Hälften
nur durch Phantasie und Träume kitten.
Es sind vor allem diese Träume, die
im Film von Ula Stöckl einen so gewaltigen, auch ästhetischen Sog
erzeugen. Vehement teilt sie das Recht auf Radikalität zu, überführt
sie in Bilder (Kamera: Axel Block), die sich ins Bewußtsein brennen. Diese
Bilder, schwarzweiß, halluzinatorisch - vor allem von Deas/Ida di Benedettos
Gesicht, das Zweifel, Trauer, Skepsis, aber auch Glück und Freude lebt
- erzählen die Geschichte noch einmal. Sie beschreiben die Liebe zu dem
Mann, der einmal anders war, sie zeigen auch ohne Worte das Verhältnis
zwischen den drei Generationen, die zusammenleben wollen. In kleinen Gesten
wird dabei alles deutlich: während Deas immer präsente Mutter sich
bekreuzigt, als Reinhard die gemeinsame Familiengeschichte abbricht, reagieren
die Töchter kaum - mit ihrem Widerstand gegen Deas Ideale haben sie sich
die Vermeidung vergleichbarer Katastrophen gesichert. Klar wird, daß die
Zeiten sich geändert haben. Die Erduldung des 'Schicksals', von der Alten
als gottgegeben und unentrinnbar akzeptiert, wird es so nicht mehr geben müssen
- die Mütter belehren ihre Töchter durch ihre 'Fehler' (das heißt
Erfahrungen) noch immer am besten.
Christa Maerker
Dieser Text ist zuerst erschienen
in: epd Film 3/1984
Der
Schlaf der Vernunft
Bundesrepublik
Deutschland 1984. Regie: Ula Stöckl. Drehbuch: Ula Stöckl. Kamera:
Axel Block. Schnitt: Christel Orthmann. Musik: Helmut Timpelan, Hugo Wolf. Ton:
Margit Eschenbach. Bauten: Lili Grote, Ula Stöckl. Ausstattung: Lili Grote.
Kostüme: Therese Hämer. Produktion: Ula Stöckl Filmproduktion/
Common Film/ZDF. Gesamtleitung: Ulrike Herein. Verleih: Basis-Film. Länge:
2248 m (82 Min.). FSK: ab 16, ffr Erstaufführung: 3.2.1984, Film International,
Rotterdam. Kinostart: 6.4.1984. Darsteller: Ida di Benedetto (Dr. Dea Jannsen),
Pina Esposito (Elena), Marta Bifano (Georgia), Stefania Bifano (Laura), Christina
Scholz (Johanna Erdmann), Christoph Lindert (Dr. Reinhard Jannsen), Therese
Hämer (Freundin), Ingrid Oppermann (Patientin), Brita Sommer (Patientin).
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