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Der
seltsame Fall des Benjamin Button
Angesichts der Komplexität der Weltgeschehens befindet sich der Idiot in einer geradezu
beneidenswerten Position. Seine Beschränktheit schirmt ihn wie ein Schutzschild
gegen die Fährnisse und Widersprüche der Welt ab; befreit von jeglicher
Verantwortung kann er in seinem vorbewussten Dämmerzustand den Lauf der
Geschichte als passiver Beobachter verfolgen.
Das amerikanische Mainstreamkino hat diese
Indifferenz in der Darstellung historisch-politischer Prozesse stark verinnerlicht;
schlimmstenfalls sitzen die Idioten selbst in leitenden Positionen – in der
CIA oder der Regierung. Drehbuchautor Eric Roth lässt mit Benjamin Button
bereits zum zweiten Mal eine solch exemplarische Figur auf das 20. Jahrhundert
los. Der Titelheld in David Finchers neuem Film „Der seltsame Fall des Benjamin
Button“ ist mit einem mysteriösen genetischen Fehler zur Welt gekommen:
Sein Alterungsprozess verläuft rückwärts. Benjamin, in (fast)
allen Lebensabschnitten von Brad Pitt gespielt, wird in den Körper eines
alten Mannes geboren und muss als Baby sterben. Seine körperliche Verfassung
stigmatisiert ihn von Geburt an als gesellschaftlichen Außenseiter, seine
Statistenrolle ist somit auch medizinisch verbürgt.
Roth hat mit Forrest Gump in den neunziger
Jahren schon einmal einen naiven Tropf geschaffen,
der willenlos durch die amerikanische Geschichte getrieben wird. Zwischen beiden
Figuren besteht jedoch ein gravierender Unterschied. Während Forrest Gump
in Robert Zemeckis Film mit mehr Glück
als Verstand zum amerikanischen Helden wird, ist Fincher zu Recht skeptischer,
was das Bild des Helden im 21. Jahrhundert angeht. Benjamins Handicap stellt
ein eher dialektisches Problem dar: Er kann dem Dilemma des Kind-Mannes nur
für einen flüchtigen Augenblick in der Mitte seines Lebens entkommen.
Die längste Zeit ist sein Kopf entweder zu jung für seinen Körper
oder sein Körper zu jung für seine mentale Verfassung. Der kurze Abschnitt,
in dem Benjamins Geist mit seinem physischen Selbst identisch ist, fungiert
dann auch als Kulminationspunkt, um den Finchers Film kreist: Sein halbes Leben
muss Benjamin darauf warten, mit seiner großen Liebe Daisy (Cate Blanchett)
altersmäßig gleichzuziehen. Doch ihre Liebe steht unter keinem guten
Stern, denn mit jedem weiteren Tag entfernen sie sich auch wieder voneinander.
Zeit ist der Schlüsselbegriff in
„Der seltsame Fall des Benjamin Button“, und doch kann Fincher dem Thema in
mehr als zweieinhalb Stunden nur wenig Substantielles abgewinnen. Vor allem
sein mangelndes Geschichsverständnis ist angesichts des epischen Atems
des Films frappant. Zwei historische Ereignisse bilden die erzählerische
Klammer: das Ende des Ersten Weltkriegs, der Geburtstag Benjamins, und der Hurrikan
Katrina. Der Sturm braut sich über New Orleans zusammen, während die
sterbende Daisy ihre Tochter aus dem Tagebuch Benjamins vorlesen lässt.
Diese Tragweite ist für Finchers Film einerseits konstitutiv, weil sie
die Verlorenheit Benjamins auch anhand der historischen Prozesse (beziehungsweise
deren Abwesenheit; die revolutionären sechziger Jahre scheinen Benjamin
und Daisy ausschließlich in ihrer Wohnung zu verbringen) statuiert. Andererseits
verkennen Fincher und Roth die Dynamik solcher Prozesse.
Stattdessen flüchtet sich der Film
immer wieder in „Amélie“-artige Märchenwelten, die sich
auch gegen die sehr reale Tragödie der Katrina-Rahmenhandlung als resistent
erweisen. Fincher und Roth blenden konsequent aus, was nur den Verdacht einer
sozialen Wirklichkeit wecken könnte. Benjamins Kindheit mit seiner afroamerikanischen
Pflegemutter Queenie ist eines von vielen Beispielen. „Der seltsame Fall des
Benjamin Button“ ignoriert sowohl die gesellschaftliche Brisanz dieser Bindung
im Amerika der zwanziger Jahre als auch den naheliegenden Bezug zur Katrina-Katastrophe
(und damit zur erzählerischen Gegenwart des Films), in der sich die soziale
Kluft zwischen Schwarzen und Weißen noch einmal in ihrem ganzen Ausmaß
offenbarte. Katrina bleibt eine historische Wegmarke ohne gesellschaftlichen
Bezug – ein Mangel, der auch das Leben Benjamin Buttons bezeichnet.
Andreas Busche
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Freitag
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Der
seltsame Fall des Benjamin Button
USA 2008 - Originaltitel: The Curious Case of Benjamin Button - Regie: David Fincher - Darsteller: Brad Pitt, Cate Blanchett, Taraji P. Henson, Julia Ormond, Jason Flemyng, Tilda Swinton - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 165 min. - Start: 29.1.2009
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