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Der
seltsame Fall des Benjamin Button
„Nothing lasts!“ – Nichts hat Bestand.
Oder vielleicht doch? Die Liebe, dieses seltsame Spiel? Das ist der leicht in
Melancholie getränkte Kammerton, der den „seltsamen Fall“ des Benjamin
Button durchzieht. Dieser wird – eine Laune der Natur, basierend auf einer Kurzgeschichte
von F. Scott Fitzgerald – als Greis geboren und fortan immer jünger. Vom
entsetzten Vater (die Mutter stirbt bei der Geburt des 80-jährigen Säuglings)
wird Benjamin dank eines Zufalls nicht getötet, sondern in einem Altenheim
abgelegt. Man schreibt den November 1918, der große Krieg ist beendet,
ganz New Orleans feiert den Sieg. Viele Jahre später, wieder in New Orleans,
nähert sich ein Hurrikan namens Katrina. Eine alte Frau liegt im Sterben
und bittet ihre Tochter, das Tagebuch eines guten Freundes vorzulesen: die Aufzeichnungen
Benjamin Buttons. Keine Sekunde des 166-minütigen Films vergeht, ohne dass
Regisseur David Fincher unmissverständlich klarstellt, dass es sich hier
um einen filmischen Jahrhundertroman mit wahrhaft epischem Atem handelt. Unablässig
schwenkt, fährt und neigt sich die Kamera, die sich nicht satt sehen kann
an den Kostümen und Sensationen der Dekors; immer wieder kommt es zu Aha-Erlebnissen,
wenn sich die Figuren, wie von Zauberhand geführt, dort einfinden, wo das
kollektive Gedächtnis seine ikonografischen Erinnerungsbilder ans 20. Jahrhunderts
geschossen hat – ohne deshalb zu einer platten Rekonstruktion von Wochenschaumaterial
zu verkommen.
Das ist Absicht: Das Leben, geprägt
von Zufällen und der Erfahrung der Vergänglichkeit, geht nicht im
Politisch-Sozialen auf, sondern streift die „Big History“ bestenfalls im Anekdotischen.
Das hat schon bei „Forrest
Gump“ (fd 30 995) funktioniert,
dessen Drehbuchautor Eric Roth auch das Skript zu „Benjamin Button“ entwarf.
Der Film hält eine weitere Sensation bereit: Die Hauptdarsteller Brad Pitt
und Cate Blanchett spielen ihre Rollen, soweit es moderne Möglichkeiten
von Maske und Spezial Effects gestatten, komplett: Die 30-jährige Blanchett
mimt eine knapp 20-Jährige und altert dann zur Sterbenden, der 45-jährige
Brad Pitt leiht seine Züge einem greisenhaften Gnom und verjüngt sich,
bis seine Rolle in den letzten Minuten von anderen Kindern übernommen wird.
De facto heißt das, dass Brad Pitt zunächst wie der alte Mickey Rooney
aussieht, dann immer mehr wie der nicht mehr ganz junge Robert Redford, irgendwann
wie Brad Pitt, schließlich wie Pitt in jungen Jahren, dazwischen manchmal
auch wie Brad Pitt als Marlon Brando, Peter O’Toole, Steve McQueen – je nachdem,
in welcher Phase der Erzählung man sich befindet.
Früh steht fest, dass es sich bei
„Benjamin Button“ um ein Wunderwerk des Ingenieurswesens handelt, dem es mehr
um das „Wie“ als um das „Was“ des Erzählens zu tun ist. Die im unentwegten
Fluss des anekdotischen Fabulierens, im fortwährenden Kommen und Gehen
der Ereignisse und Nebenfiguren agierenden Protagonisten erscheinen als sprechende
Kostümständer, vorzugsweise unterlegt mit gospelgetränkten Südstaaten-Singsang
der Kategorie „By God, yes, Ma’m, I’ve seen a lotta things pass!“ Der Vergleich
mit „Forrest Gump“ drängt sich auch auf, wenn man an die ideologische Substanz
von „Benjamin Button“ heran will, der sein existenzielles Thema – als Greis
geboren und dann immer jünger werdend – nur als bittersüße Liebesgeschichte
in den Griff bekommt, ansonsten aber gar nicht erst versucht, sich der philosophischen
Dimension des Bewusstseins seines Protagonisten zu nähern. So bleibt es
beim phasenweise lösbaren Problem, die Biografien von Button und seiner
großen Liebe Daisy soweit zu synchronisieren, dass angesichts der vorbeiziehenden
Zeitläufte einige große Gefühle und dem Zuschauer ein wohliges
Schaudern vor der eigenen Vergänglichkeit bleibt.
Dass dem so ist, lernt Benjamin früh,
weil er als junger Greis in einem Altenheim aufwächst, in dem das Kommen
und Gehen zum Alltag gehört. Hier ist er der stille Beobachter, der sich
seinen Reim auf das Leben der jünger aussehenden Erwachsenen macht, ohne
dass die Spannung zwischen Körper und Geist über die dekorativ musical-hafte
Geborgenheit in den Südstaaten der Roosevelt-Ära hinausginge. In manchen
Momenten besitzt „Benjamin Button“ das Zeug zum Schelmenroman, zu einer Art
modernisiertem „Huckleberry Finn“. Doch dann heuert Button auf einem Kutter
an, zieht in den Krieg, kehrt heim, trifft Daisy wieder, die jetzt eine Ballett-Karriere
in New York macht und ein Künstlerleben führt, für das Benjamin
augenblicklich noch zu alt ist. Erneut treffen sie in Paris aufeinander, als
Daisys Karriere ein unglückliches Ende findet. Schließlich leben
sie sogar einige Jahre ihre Liebe – beide jetzt in den besten Jahren –, doch
als sie eine Familie gründen, fühlt sich Benjamin bereits zu jung
und verkündet weise: „Ein Kind braucht einen Vater und keinen Spielkameraden!“
Er zieht auf dem Hippie-Trail seiner Wege, was selbst redend noch nicht das
Ende der Liebesgeschichte ist.
Während das 20. Jahrhundert solcherart
verdichtet vorüber rauscht, bleibt Button immer ein „kalter“ Beobachter
der Zeitläufte, wobei der Film eigentümliche Schwerpunkte setzt. Hat
es mit der literarischen Vorlage von Fitzgerald zu tun oder mit den Vorlieben
des Production Design, dass die 1920er- bis 1950er-Jahre so viel „reicher“ erscheinen
als die beschleunigten letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts? Während
die Beatles zumindest noch einen Fernsehauftritt haben, fehlen die üblichen
Bilder von Kennedy, vom Vietnam-Krieg, der Mondlandung, Watergate, der Bürgerrechtsbewegung
und 9/11. Erst ganz zum Schluss spülen die von „Katrina“ ausgelösten
Fluten einige Requisiten und damit auch die Bush-Ära hinfort: „Nothing
lasts!“ Ist also „Benjamin Button“ letztlich ein seelenloses, intellektuell
unterdeterminiertes „L’art pour l’art“, so gibt es eine meisterhafte Sequenz,
die heraus sticht: Das Ende von Daisys Karriere als Tänzerin in Paris,
das die spätere Liebesgeschichte mit Benjamin erst möglich macht,
verdankt sich einem Geflecht von Zufällen, die der Film quasi als autonome
Montage visualisiert und dabei so etwas wie ein Äquivalent zum Musilschen
„Möglichkeitssinn“ entwickelt, der dem Film sonst völlig abgeht.
Ulrich Kriest
Dieser Text ist zuerst erschienen in: film-Dienst
Zu
diesem Film gibt’s im archiv der filmzentrale mehrere
Texte
Der
seltsame Fall des Benjamin Button
USA 2008 - Originaltitel: The Curious Case of Benjamin Button - Regie: David Fincher - Darsteller: Brad Pitt, Cate Blanchett, Taraji P. Henson, Julia Ormond, Jason Flemyng, Tilda Swinton - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 165 min. - Start: 29.1.2009
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