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Séraphine
Zwei
Außenseiter in der Welt der Kunst
Aus
welchen Quellen speist sich Kunst? Zumal, wenn es sich dabei um eine Kunst handelt,
die man als "naiv" charakterisiert? Über diese Fragen nachzudenken,
erhält man Gelegenheit in Martin Provosts sensibler und angenehm zurückhaltender
Annäherung an die Biografie von Seraphine Louis (1864-1942), die heute
zu den bedeutendsten Vertreterinnen der naiven Kunst in Frankreich zählt.
Entdeckt wurde ihre Begabung, als der Publizist und Galerist Wilhelm Uhde sich
in die Kleinstadt Senlis zurückzog, um Abstand von der hektischen Pariser
Kunstszene der 1910er Jahre zu gewinnen.
Uhde,
der Picasso und Rousseau entdeckt hat, bekommt eher zufällig ein Bild zu
Gesicht, das seine Haushälterin Seraphine gemalt hat und erkennt instinktiv
ihr Talent. Er beginnt die einfache, tiefreligiöse und verschlossene Frau
- sensationell und mit größtem Mut zur Reduktion verkörpert
von Yolande Moreau - zu fördern. Doch der Erste Weltkrieg und viel später
dann die Verwerfungen der Weltwirtschaftkrise lassen die Beziehung zwischen
Uhde und Louis immer wieder abreißen. Die Art und Weise, wie der Franzose
Provost diese Geschichte erzählt, ist bis in Nuancen präzise. Der
lässt sich auf die Atmosphäre des engen Kleinstadtlebens ein, sammelt
Impressionen und Geräusche, schafft so insbesondere eine filmische Antwort
auf Seraphines sinnlich-mystisches Verhältnis zur inspirierenden Natur,
zum Wasser und den Bäumen.
Zugleich
aber verklärt der Film nicht den Prozess der Kunstproduktion, sondern beobachtet
mit Respekt, wenn Seraphine sich in ihr kleines Zimmer zurückzieht, um
ihre originellen floralen Fantasiewelten auf Holz und später auf die Leinwand
zu bringen. Zugleich aber bindet der Film Seraphines Biografie sehr konkret
in sozialhistorische Kontexte ein, beschreibt ein Frauenleben in großer
Armut, das mit Arbeiten als Botengängerin, Haushälterin oder Dienstmagd
bestritten wird.
Auch
sieht man, wie die Malerin ihre Farben dem bäuerlich-kleinstädtischen
Alltag abringt, wie sie ihre Farben aus Hühnerblut, Fruchtsäften oder
Dreck gewinnt. So bilden Alltag und Kunstproduktion eine Einheit, wobei Uhde
als Verbindung zur mondänen Welt der Kunstszene fungiert.
Ulrich
Tukur verleiht dieser Figur, die als Jude und Homosexueller selbst ein Außenseiter
und vor der Enge der wilhelmischen Gesellschaft nach Paris geflohen ist, feine
Züge. Dass ein Galerist und Mäzen eben auch ein Geschäftsmann
ist und nicht etwa aus persönlicher Freundschaft oder Liebe handelt - an
diesem existenziellen, aber sehr wohl nachvollziehbaren Missverständnis
wird Seraphine zerbrechen.
Als
die über Jahre von Uhde in Aussicht gestellte große Einzelausstellung
sich schließlich aufgrund der Weltwirtschaftkrise zerschlägt, versteht
sie dieses Scheitern als persönlichen Verrat. Ihre letzten Lebensjahre
verbringt Seraphine Louis in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie,
doch in der letzten Einstellung zeigt der Film, worin vielleicht das Geheimnis
ihrer Kunst gegründet haben mag.
Ulrich
Kriest
Dieser
Text ist zuerst erschienen in der: Stuttgarter Zeitung
Séraphine
Frankreich
/ Belgien 2008 - Regie: Martin Provost - Darsteller: Yolande Moreau, Ulrich
Tukur, Anne Bennent, Geneviève Mnich, Nico Rogner, Adélaïde
Leroux, Serge Larivière, Françoise Lebrun, Anne Benoît,
Léna Bréban - FSK: ab 6 - Länge: 125 min. - Start: 17.12.2009
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